Leben und Schicksal
verräuchert, von Flüchen und Staub verschmutzt war, nun von Licht und Himmelsbläue durchgespült …
Sie gingen in den Wald hinein, in den Schatten der ersten Kiefern, die gleichsam seine Vorhut bildeten. Hier lag der Schnee noch als dichte Decke. Auf den Kiefern, im grünen Rad der Zweige, tummelten sich Eichhörnchen, und unten auf der vereisten Schneefläche lagen im weiten Kreis ausgenagte Zapfen und Holzmulm. Die Stille im Wald rührte vom Licht her, das, gedämpft vom vielstöckigen Nadelkleid, nicht rieselte, nicht klirrte.
Sie gingen immer noch schweigend, sie waren zusammen, und das allein hatte bewirkt, dass alles so schön und frühlingsfrisch war.
In stummem Einverständnis blieben sie stehen. Zwei feiste Gimpel saßen auf einem Fichtenzweig. Ihre roten Brüste sahen aus wie Zauberblumen, die im Schnee erblüht waren. Ganz wundersam war zu dieser Stunde die Waldstille.
In dieser Stille lag die Erinnerung an das vorjährige Laub, an ausgerauschten Regen, an gebaute und wieder verlassene Nester, an die Kindheit, an die freudlose Arbeit der Ameisen, an die hinterhältige Räuberei der Füchse und Geier, an den Weltkrieg aller gegen alle, an Bosheit und Güte, die in einem Herzen aufgekeimt und mit diesem Herzen gestorben waren, an Gewitter und Donnerschläge, die Hasenseelen und Fichtenstämme hatten erzittern lassen. Im kühlen Halbdunkel, unter dem Schnee, schlief das vergangene Leben – es schlief die Freude der Liebesbegegnungen, das zaghafte Aprilgeplapper der Vögel, die erste Bekanntschaft mit zunächst seltsamen, später vertrauten Nachbarn. Es schliefen die Starken und Schwachen, die Tapferen und Feigen, die Glücklichen und Unglücklichen. In dem verlassenen, verwahrlosten Haus fand der letzte Abschied von den Verstorbenen statt, die es für immer verlassen hatten.
Doch in der Kälte des Waldes war der Frühling deutlicher zu spüren als in der sonnenbestrahlten Ebene. In dieser Stille des Waldes war größere Trauer als in der Stille des Herbstes. In seiner stummen Sprachlosigkeit vernahm man den Schrei der Toten und die wilde Freude des Lebens …
Es war noch dunkel und kalt, doch bald schon würden sich die Türen und Fensterläden öffnen, das verlassene Haus würde wieder lebendig werden, sich mit dem Weinen und Lachen der Kinder füllen, widerhallen von den eiligen Schritten der geliebten Frau, dem sicheren Schritt des Hausherrn.
Sie standen da, hielten ihre Brottaschen in der Hand und schwiegen.
1960
ANHANG
Briefe an die Mutter
Die beiden folgenden Briefe wurden nach dem Tod Wassili Grossmans im Jahr 1964 in seinen persönlichen Unterlagen gefunden. Den ersten Brief schrieb er neun Jahre nach ihrem Tod, den zweiten zwanzig Jahre danach.
»Liebe Mama, ich habe im Winter 1944 von Deinem Tod erfahren. Ich kam nach Berditschew, ging in das Haus, in dem Du gewohnt hast und das Tante Anjuta, Onkel David und Natascha verlassen haben, und wusste nun, dass Du nicht mehr am Leben bist. Doch in meinem Herzen spürte ich es bereits im September 1941. An der Front hatte ich nachts einen Traum – ich betrat ein Zimmer, von dem ich wusste, dass es das Deine war, und erblickte den leeren Sessel, in dem Du, wie mir klar war, geschlafen hattest; das Tuch, mit dem Du Deine Beine zudecktest, hing vom Sessel herab. Lange betrachtete ich diesen leeren Sessel, und als ich aufwachte, wusste ich, dass Du nicht mehr am Leben bist. Nichts aber ahnte ich von dem grauenvollen Tod, den Du sterben musstest, davon erfuhr ich erst, als ich in Berditschew die Menschen befragte, die von den Massenhinrichtungen am 15. September 1941 wussten. Zigmal, ja vielleicht hundertmal habe ich mir vorzustellen versucht, wie Du gestorben, wie Du in den Tod gegangen bist, und auch den Mann, der Dich getötet hat, habe ich mir vorzustellen versucht. Er war der Letzte, der Dich gesehen hat. Ich weiß, dass Du in jener Zeit sehr viel an mich gedacht hast.
Jetzt sind es schon mehr als neun Jahre, seit ich Dir keine Briefe mehr schreibe und Dir nichts mehr von meinem Leben und den Dingen, die mich beschäftigen, erzähle. In diesen neun Jahren hat sich so viel in meiner Seele angestaut, weshalb ich Dir nun schreiben und, natürlich, mein Herz ausschütten will, da sich im Grunde niemand für meine Kümmernisse interessiert, nur Dir allein war es immer wichtig, davon zu erfahren.
Ich will Dir gegenüber ganz offen sein und Dir alles so erzählen, wie ich es empfinde, aber es wird vielleicht nicht die ganze Wahrheit sein, denn
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