Leben und Schicksal
Grande Armée binnen sechs Monaten aufgeriebenwurde. 4
Umgekehrt bemühte die sowjetische Seite Napoleons Scheitern zum Zweck der eigenen Selbstvergewisserung. Mit Blick auf den »Vaterländischen Krieg« von 1812 erklärte Stalin den Kampf gegen Hitlerdeutschland zum »Großen Vaterländischen Krieg«. Auf der Suche nach Antworten, geschichtlichen wie persönlichen, auf den deutschen Überfall griffen viele Russen zu »Krieg und Frieden«, Lew Tolstois Romanepos zum Krieg von 1812.
»Krieg und Frieden« wurde während der Kriegszeit intensiv rezipiert. Das Kommissariat für Volksaufklärung druckte eine Broschüre mit Anleitungen, wie das für seinen Umfang und seine unüberschaubare Handlung berüchtigte Werk sowjetischen Lesern im Krieg zugänglich gemacht werden solle. Der Roman sei besonders jetzt so wichtig, so erläuterte die Broschüre, weil er von tiefer Kenntnis »der Lebensumstände und der Psychologie des russischen Soldaten« durchdrungen sei. »Bescheidenheit, Einfachheit« und ein tiefverwurzelter patriotischer Geist, die ihn dazu brachten, »in der Gefahr etwas völlig anderes als Gefahr zu erblicken« (Zitate übrigens aus »Krieg und Frieden«) – diese Haupteigenschaften des russischen Soldaten sollten auch die Rotarmisten inspirieren und mobilisieren. Die Beliebtheit von »Krieg und Frieden« lässt sich daran ermessen, dass der Roman im Herbst 1941 in voller Länge (in insgesamt dreißig Folgen) im Moskauer Radio vorgetragen wurde. Im eingekesselten Leningrad wurde eine Auflage von mehr als 100.000 Exemplarengedruckt. 5
Wie das Buch unter diesen Bedingungen gelesen wurde, beschreibt die Literaturkritikerin Lydia Ginzburg, die die gesamte Blockadezeit in Leningrad durchstand. »Während der Kriegsjahre verschlangen die Menschen ›Krieg und Frieden‹, um sich selbst zu überprüfen (und nicht etwa Tolstoi, an dessen angemessener Darstellung des Lebens niemand zweifelte).« Tolstois Helden, die im Verlauf des Romans ihr persönliches Leben der »gemeinsamen Sache des Volkskriegs« widmeten, gaben den Standard von Standhaftigkeit und Mut vor, an dem sich ihre sowjetischen Leser maßen. »Wer las«, so Ginzburg weiter, sagte sich: »Aha, das empfinde ich also richtig. So ist dasalso.« 6
In einem Gespräch mit Moskauer Historikern, die Anfang Januar 1943 an die Stalingrader Front fuhren, um Material für eine Chronik des Großen Vaterländischen Kriegs zu sammeln, erzählte Armeegeneral Wassili Tschuikow von seiner Identität als Kommandeur, mit aufschlussreichen Verweisen auf Tolstoi. Persönlich, sagte Tschuikow, sei er nicht immun gegen Angstgefühle während einer Schlacht, doch »Krieg und Frieden« habe für ihn verdeutlicht, wie wichtig es sei, seine Angst vor den ihn umgebenden Offizieren und Soldaten zu verbergen: »Der menschliche Stolz, insbesondere der Stolz des Kommandeurs, ist von entscheidender Bedeutung in der Schlacht. Also, in der Beziehung, da hat Lew Tolstoirecht.« 7
Vermutlich dachte Tschuikow an Rajewskij, den General in Tolstois Roman, der seine Männer persönlich in die Schlacht führte und als erster dem Kugelhagel der Franzosen entgegenpreschte.
So lebhaft waren Tolstois Aufzeichnungen über den Krieg, dass einige seiner sowjetischen Leser sie für authentisch hielten. Darauf verweist die Szene in »Leben und Schicksal«, in der Kommissar Krymow General Gurjews Fronteinheit in der Stalingrader Stahlfabrik »Roter Oktober« aufsucht. Nachdem Krymow seinen politischen Vortrag zur Hebung der soldatischen Moral gehalten hat, ziehen sich die beiden Offiziere zu einem persönlichen Gespräch bei einer Flasche Wodka zurück. Gurjew beschwert sich über die Journalisten, die in der hintersten Etappe säßen und schlecht über den Krieg berichteten. Keiner von ihnen reiche an Tolstoi heran, der deshalb das beste Buch über den Krieg geschrieben habe, weil er persönlich am Feldzug gegen Napoleon beteiligt gewesen sei. Gurjew reagiert ungläubig und wütend auf Krymows Hinweis, dass Tolstoi 1812 noch nicht einmal geboren war. Dem Kommissar gelingt es nicht, seinen Gesprächspartner von seinen Argumenten zu überzeugen. (»Leben und Schicksal«, 286)
Wassili Grossman war fasziniert von Tolstoi. »Krieg und Frieden« war, wie Grossman selbst sagte, das einzige Buch, das er während der Kriegsjahre las. Er las es zweimal. Im Oktober 1941 begleitete Grossman eine Einheit von Rotarmisten auf ihrem überstürzten Rückzug vor den deutschen Panzerverbänden zwischen Orël und
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