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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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weiß das und vergisst es nicht«, sagte Getmanow. »Es gibt aber außerdem noch einige Dinge, die manche sowjetische Menschen vergessen.«
    »Ja, das ist wahr!«, sagte Maschtschuk. »Die dürfen wir niemals vergessen.«
    »Und dann fragen sich die Leute, warum das ZK sein Einverständnis verweigert, warum es so oder anders beschließt. Sie selbst aber halten nicht viel von Vertrauen.«
    Galina Terentjewna erklärte plötzlich erstaunt, jede Silbe dehnend: »Es ist schon sonderbar, eurer Unterhaltung zuzuhören. Als ob es keinen Krieg gäbe und man keine anderen Sorgen hätte, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wen der Korpskommandeur Soundso heiratet und wer der ehemalige Mann seiner zukünftigen Frau ist. Mit wem wolltest du eigentlich Krieg führen, Dima?«
    Sie sah die Männer spöttisch lächelnd an, und irgendetwas, das in ihren schönen braunen Augen aufleuchtete, gab diesen Ähnlichkeit mit den Schlitzaugen ihres Mannes – es musste wohl der durchdringende Blick sein, der sie einander ähnlich erscheinen ließ.
    »Wie konnte jemand den Krieg vergessen?«, sagte Sagaidak mit trauriger Stimme.
    »Von überall her ziehen unsere Brüder, unsere Söhne in den Krieg – von der letzten Kolchoshütte bis zum Kreml. Dieser Krieg ist ein großer, ein vaterländischer Krieg. Genosse Stalins Sohn Wassili ist Kampfflieger, auch Genosse Mikojans Sohn ist bei der Luftwaffe, ein Sohn von Lawrenti Pawlowitsch ist, wie ich höre, an der Front, ich weiß nicht, bei welcher Waffengattung. Timur Frunse ist Leutnant, ich glaube, bei der Infanterie. Dann ist der Sohn von dieser – wie heißt sie doch gleich? – Dolores Ibárruri, ihr Sohn ist bei Stalingrad gefallen …«
    »Genosse Stalin hat zwei Söhne an der Front«, sagte der Bruder der Hausherrin. »Der zweite, Jakow, hat eine Artillerieeinheit befehligt. Ach nein, das stimmt nicht, der jüngere ist ja Wasska, Jakow ist der ältere. Ein unglücklicher Junge – er ist in Gefangenschaft geraten.«
    Er verstummte, denn er fühlte, dass er ein Thema berührt hatte, über das nach Ansicht der älteren Genossen nicht gesprochen werden durfte.
    Um das Schweigen zu brechen, fügte Nikolai Terentjewitsch unbefangen hinzu: »Übrigens werfen die Deutschen Flugblätter mit Lügenpropaganda ab – es heißt da, Jakow Stalin habe ihnen bereitwillig Aussagen gemacht.«
    Aber die Leere um ihn wurde noch bedrückender. Er hatte da etwas angesprochen, was man weder im Scherz noch im Ernst hätte erwähnen dürfen, sondern hätte verschweigen müssen. Wäre es jemandem eingefallen, sich über die Gerüchte zu empören, die über Stalins Verhältnis zu seiner Frau in Umlauf waren, dann hätte dieser aufrichtige Streiter mit seinem Dementi keinen geringeren Fehler gemacht als der Verbreiter dieser Gerüchte. Ihre bloße Erwähnung war tabu.
    Getmanow wandte sich unvermittelt zu seiner Frau: »Mein Herz, wo Genosse Stalin eine Angelegenheit in die Hand genommen hat, und noch dazu so energisch, da ist es an den Deutschen, sich Sorgen zu machen.«
    Nikolai Terentjewitschs schuldbewusster Blick kreuzte den Blick Getmanows. Aber die Menschen, die da um den Tisch herum saßen, waren ja nicht gekommen, um sich zu streiten, um aus einer Ungeschicklichkeit eine große Geschichte, einen Fall, zu machen.
    Sagaidak nahm Nikolai Terentjewitsch in Schutz. »Das ist gewiss richtig«, wandte er sich begütigend und in kameradschaftlichem Ton an Getmanow, »lassen wir es lieber unsere Sorge »ein, dass wir auf unserem eigenen Terrain keine Dummheiten machen.«
    »… und kein unnützes Zeug daherschwatzen«, fügte Getmanow hinzu. Indem er so ohne Umschweife aussprach, was er Nikolai Terentjewitsch vorwarf, statt es zu verschweigen, gab er zu verstehen, dass seinem Schwager verziehen war, und Sagaidak und Maschtschuk nickten beifällig.
    Nikolai Terentjewitsch wusste, dass dieser unbedeutende Zwischenfall – im Grunde nicht mehr als eine Entgleisung – schnell vergessen sein würde. Er wusste aber auch, dass das nicht bedeutete: für immer. Irgendwann würde es um Kaderfragen, um Beförderungen, um die Vergabe besonders verantwortlicher Aufgaben gehen, Nikolai Terentjewitschs Name würde fallen, und Getmanow, Sagaidak und Maschtschuk würden beifällig nicken, dabei aber unmerklich lächeln und auf die Frage eines neugierigen Gesprächspartners antworten: »Vielleicht ein wenig unbedacht«, und dieses »wenig« mit der Spitze ihres kleinen Fingers veranschaulichen.
    Im Grunde ihres Herzens waren

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