Leben und Schicksal
verfochten.
Wladimir Andrejewitsch hatte Genia von seinem Gespräch mit dem Adelsmarschall des Gouvernements erzählt – das war vor vierzig Jahren gewesen –, der gesagt hatte: »Sie, der Vertreter eines der ältesten Geschlechter Russlands, haben sich vorgenommen, den Bauern zu beweisen, dass Sie vom Affen abstammen. Der Bauer wird Sie fragen: ›Und die Großfürsten? Und der Zarewitsch? Und die Zarin? Und der Zar selbst?‹«
Wladimir Andrejewitsch verwirrte weiterhin die Geister, und die Sache endete damit, dass er nach Taschkent versetzt wurde. Ein Jahr später wurde er rehabilitiert und reiste in die Schweiz. Dort kam er mit vielen revolutionären Persönlichkeiten zusammen – den fürstlichen Sonderling kannten Bolschewiken, Menschewiken, Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Er ging zu Diskussionen und Abendgesellschaften, war mit manchen näher bekannt, doch mit niemandem einer Meinung. In jener Zeit war er mit einem jüdischen Studenten, dem schwarzbärtigenBundisten 16 Lipez, eng befreundet.
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg kehrte er nach Russland zurück und ließ sich auf seinem Gut nieder. Gelegentlich veröffentlichte er Aufsätze über geschichtliche und literarische Themen im »Nischni Nowgoroder Blättchen«.
Mit der Bewirtschaftung des Gutes befasste er sich nicht. Es wurde von seiner Mutter verwaltet.
Schargorodski war später der einzige Gutsbesitzer, dessen Besitz die Bauern nicht antasteten. Das Komitee der Kleinbauern teilte ihm sogar eine Fuhre Brennholz zu und gab ihm vierzig Kohlköpfe heraus. Wladimir Andrejewitsch saß im einzigen Zimmer des Hauses, das noch heile Fenster hatte und geheizt wurde, las und schrieb Gedichte. Ein Gedicht hatte er Genia vorgelesen. Es hieß »Russland«:
Törichte Sorglosigkeit
Nach allen vier Winden.
Flaches Land. Endlosigkeit.
Unheil die Raben künden.
Wüten. Brände. Verschlossenheit.
Dumpfe Gleichgültigkeit,
Und überall Urwüchsigkeit
Und erschreckende Größe.
Beim Lesen sprach er die Worte sorgfältig aus, setzte Punkt und Komma und zog die Brauen hoch, was jedoch seine großflächige Stirn nicht kleiner wirken ließ.
1926 plante Schargorodski, Vorlesungen über russische Literaturgeschichte zu halten, widerlegte Demjan Bedny und verherrlichte Fet, trat auf bei Diskussionen über Schönheit und Wahrhaftigkeit des Lebens, die damals in Mode waren, nannte sich einen Gegner jeglicher Staatsform, erklärte den Marxismus für eine beschränkte Lehre, sprach über das Schicksal der russischen Seele und verstieg und verrannte sich so weit, dass er wieder nach Taschkent strafversetzt wurde. Dort lebte er und wunderte sich über die Stärke geografischer Argumente im theoretischen Streit. Erst Ende 1933 erhielt er die Erlaubnis, nach Samara zu seiner älteren Schwester Jelena Andrejewna überzusiedeln. Sie starb kurz vor dem Krieg.
Niemals lud Schargorodski jemanden in sein Zimmer ein. Doch einmal hatte Genia einen Blick in das Fürstengemach werfen können: Stapel von Büchern und alten Zeitungen türmten sich in den Ecken, altertümliche Sessel waren bis fast unter die Decke übereinandergestapelt, Porträts in vergoldeten Rahmen standen auf dem Boden. Auf dem mit rotem Samt bezogenen Diwan lag eine zerknüllte Bettdecke, aus der dicke Watteflocken herausquollen.
Er war ein weicher Mensch, hilflos in den Dingen des praktischen Lebens. Von solchen Menschen sagt man im Allgemeinen, sie seien Menschen mit Kinderseelen und Engelsgüte. Doch er brachte es fertig, seine Lieblingsverse murmelnd, gleichgültig an einem hungrigen Kind vorüberzugehen oder an einer zerlumpten Greisin, die die Hand nach einem Stück Brot ausstreckte.
Wenn Genia Schargorodski zuhörte, erinnerte sie sich oft an ihren ersten Mann, obwohl es eigentlich keine große Ähnlichkeit zwischen dem betagten Anhänger Fets und Wladimir Solowjows und dem Komintern-Mann Krymow gab.
Es verblüffte sie, dass Krymow, der für den Reiz der russischen Landschaft und des russischen Märchens, eines Gedichts von Fet oder Tjutschew nichts übrighatte, ein ebensolcher russischer Mensch war wie der alte Schargorodski. Gegenüber allem, was Krymow von Jugend an am russischen Leben teuer gewesen war, gegenüber den Namen, ohne die er sich Russland gar nicht denken konnte, zeigte Schargorodski Gleichgültigkeit, manchmal sogar Feindseligkeit.
Für Schargorodski war Fet ein Gott, mehr noch, ein russischer Gott. Ebenso göttlich waren für ihn das Märchen »Finist, der edle Falke« und
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