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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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einen widerwärtig einschmeichelnden Ton annahm. Sie schien nicht ihr, sondern einer Baptistin zu gehören.
    An diesem Tag wollte Genia ihre Stellung kündigen.
    Sie hatte gehört, dass nach einem abschlägigen Bescheid der Passstelle gewöhnlich ein Mann vom Milizrevier in die Wohnung kommt und den Abgewiesenen unterschreiben lässt, dass er Kuibyschew binnen drei Tagen verlassen werde. In der Ausweisung heißt es: »Wer sich einer Übertretung der Passvorschriften schuldig macht, unterliegt…« Genia wollte nicht »unterliegen«. Sie fand sich damit ab, Kuibyschew verlassen zu müssen. Und plötzlich wurde sie ruhig, der Gedanke an Grischin, an Glafira Dmitriewna, an ihre Augen, die klebrig waren wie faule schwarze Oliven, quälte sie nicht mehr, hatte seinen Schrecken verloren. Sie hatte der Ungesetzlichkeit entsagt, unterwarf sich dem Gesetz.
    25
    Genia hatte den Kündigungsbrief schon geschrieben und wollte gerade damit zu Risin gehen, als man sie ans Telefon rief. Es war Limonow. Er wollte wissen, ob sie am folgenden Abend frei sei. Er habe da einen Gast aus Taschkent, der sehr amüsant vom dortigen Leben erzähle. Der Mann habe ihm Grüße von Alexej Tolstoi überbracht. Wieder spürte Genia den Hauch eines anderen Lebens.
    Ohne es zu wollen, erzählte sie Limonow, wie es ihr mit der Anmeldung ergangen war. Er hörte zu, ohne sie zu unterbrechen, und sagte dann: »Eine feine Geschichte! Höchst interessant! Der Papa hat seinen Namen einer Straße in Kuibyschew gegeben, und die Tochter prügelt man hinaus, verweigert ihr die Aufenthaltserlaubnis. Amüsant, sehr amüsant.«
    Er schien zu überlegen. Nach einer Weile sagte er: »Hören Sie zu, Jewgenia Nikolajewna, geben Sie Ihre Kündigung heute noch nicht ab. Morgen nehme ich an einer Konferenz beim Sekretär des Gebietskomitees teil und werde ihm Ihren Fall erzählen.«
    Genia dankte ihm, war aber im Grunde überzeugt, dass Limonow schon im selben Augenblick, als er den Hörer auflegte, die Sache vergessen haben würde. Trotzdem sagte sie Risin nichts von ihrer Kündigung, sondern fragte ihn nur, ob er ihr über den Stab der Militärverwaltung einen Fahrschein für den Dampfer nach Kasan besorgen könnte.
    »Nichts leichter als das«, sagte Risin und machte eine resignierte Geste. »Mit den Organen der Miliz hat man seine liebe Not. Aber was kann man machen? Kuibyschew unterliegt einer Sonderregelung. Die haben dort spezielle Weisungen …«
    Dann fragte er: »Sind Sie heute Abend frei?«
    »Nein, ich bin verabredet«, antwortete sie wütend.
    Auf dem Heimweg dachte sie daran, dass sie bald ihre Mutter, ihre Schwester, Viktor Pawlowitsch und Nadja wiedersehen und dass sie es in Kasan besser haben würde als in Kuibyschew. Sie fragte sich, warum sie jedes Mal so bedrückt war und vor Angst zitterte, wenn sie das Milizrevier betrat. Na gut, man hatte sie abgelehnt. Und wennschon. Sie pfiff darauf … Und sollte ein Brief von Nowikow kommen, so könnte man ja die Nachbarn bitten, ihn nach Kasan nachzusenden.
    Am nächsten Morgen, sie hatte kaum ihr Büro betreten, kam für sie ein Anruf. Eine liebenswürdige Stimme bat sie, auf der Passstelle der Städtischen Miliz vorzusprechen – zur behördlichen Anmeldung.
    Genia hatte mit einem ihrer Mitbewohner, Schargorodski, Bekanntschaft geschlossen. Wenn Schargorodski sich jäh umwandte, hatte man das Gefühl, sein großer, wie aus Alabaster gemeißelter Kopf würde von seinem dünnen Hals abbrechen und polternd zu Boden fallen. Genia war aufgefallen, dass die blasse Gesichtshaut des alten Mannes einen sanft bläulichen Schimmer hatte; er stammte aus einem alten adligen Geschlecht, und da auch seine Augen von kaltem Blau waren, belustigte sie der Gedanke, dass man Schargorodski blau malen müsste.
    Wladimir Andrejewitsch Schargorodski war es vor dem Krieg schlechter gegangen als während des Krieges. Jetzt hatte er etwas Arbeit gefunden. Das Sowinformbüro hatte ihm den Auftrag gegeben, Glossen über Dmitri Donskoi, Suworow, Uschakow, über die Traditionen des russischen Offiziersstandes und über die Dichter des neunzehnten Jahrhunderts Tjutschew und Baratynski zu schreiben.
    Wladimir Andrejewitsch hatte Genia gesagt, dass er mütterlicherseits mit einem uralten Fürstengeschlecht verwandt sei, noch älter als das der Romanows.
    Als junger Mann hatte er imSemstwo 15 der Gouvernements gedient und unter den Gutsbesitzersöhnen, Dorflehrern und jungen Geistlichen die Ideen Voltaires und Tschaadajews

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