Leben und Schicksal
viele dieser Brettchen; in ihrer Dichte und Gleichförmigkeit erinnerten sie an ein Getreidefeld.
Da hatte sie endlich Tolja gefunden. Wie oft hatte sie versucht zu erraten, wo er war, was er tat, woran er dachte. Ob ihr Kleiner, an die Wand eines Schützengrabens gelehnt, gerade schlief, ob er auf einer Straße dahinmarschierte oder ruhig, in der einen Hand den Becher und in der anderen ein Stück Würfelzucker, seinen Tee trank, ob er unter feindlichem Beschuss über ein Feld rannte … Sie hatte an seiner Seite sein wollen, er brauchte sie – sie hätte ihm Tee nachgeschenkt, hätte gesagt: »Iss noch ein bisschen Brot«, sie hätte ihm die Stiefel ausgezogen und die wundgelaufenen Füße gewaschen, hätte ihm einen Schal um den Hals gewickelt … Und jedes Mal war Tolja verschwunden, und sie hatte ihn nicht finden können. Jetzt hatte sie ihn gefunden, doch er brauchte sie nicht mehr.
Weiter weg sah man Gräber mit Granitkreuzen aus der Zeit vor der Revolution. Die Grabsteine standen herum wie ein Haufen Greise, die keiner mehr brauchte, die allen gleichgültig waren: Einige waren umgesunken, andere lehnten sich hilflos gegen die Baumstämme.
Es kam ihr vor, als sei die Luft aus dem Himmel gewichen, als hätte man sie aus ihm herausgepumpt, als bestünde der Raum über ihr aus einer mit trockenem Staub erfüllten Leere. Die geräuschlose Pumpe aber, die die Luft aus dem Himmel herauspumpte, arbeitete weiter, immer weiter, und für Ljudmila hörte nun nicht nur der Himmel auf zu sein, sondern auch Glaube und Hoffnung waren weg – in der unermesslichen, luftlosen Leere blieb nur noch der kleine Hügel aus grauen, gefrorenen Erdklumpen zurück.
Alles, was Leben war – die Mutter, Nadja, Viktors Augen, die Kriegsberichte –, hörte auf zu existieren. Das Lebendige wurde leblos. Auf der ganzen Welt lebte nur noch Tolja. Doch welche Stille ringsum: Wusste er denn schon, dass sie gekommen war?
Ljudmila sank auf die Knie; ganz behutsam, um den Sohn nicht in seiner Ruhe zu stören, rückte sie das Schildchen mit seinem Namen zurecht – er war immer wütend geworden, wenn sie auf dem Weg zur Schule ständig an seinem Kragen herumzupfte.
»Da bin ich, aber du hast sicher gedacht, deine Mama kommt nicht.«
Sie sprach mit leiser Stimme, weil sie fürchtete, jenseits der Friedhofsumgrenzung könnte man sie hören. Über die Landstraße brausten Lastwagen; dunkles, granitgraues Schneegestöber wirbelte, sich kringelnd und kräuselnd wie Rauchschwaden, über den Asphalt … Auf der Straße gingen Milchfrauen mit ihren Kannen und Männer mit Säcken; unter ihren derben Soldatenstiefeln dröhnte das Pflaster; Schulkinder in wattierten Jacken und Soldatenwintermützen rannten vorbei. Doch all dieses Treiben erschien ihr wie ein nebelhaftes Trugbild.
Welch eine Stille!
Sie redete mit ihrem Sohn, rief sich Einzelheiten aus seinem Leben ins Gedächtnis, und diese Erinnerungen, die nur in ihrem Bewusstsein existierten, erfüllten den Ort mit seiner Kinderstimme, mit seinen Tränen, mit dem Rascheln von Bilderbüchern, dem Klappern eines Löffelchens auf dem Rand eines weißen Tellers, dem Brummen von selbstgebauten Radios, dem Knirschen von Skiern, dem Quietschen von Ruderdollen auf dem Teich bei der Datscha, dem Knistern von Bonbonpapier, erfüllten ihn mit flüchtigen Visionen seines Knabengesichts, seiner Schultern und seiner Brust. Seine Tränen, seine Kümmernisse, seine guten und schlechten Taten hatten, von ihrer Verzweiflung wiederbelebt, wahrnehmbare Gegenwart erlangt. Nicht die Erinnerung an Vergangenes, sondern das wirkliche Leben versetzte sie in Aufregung … Wozu muss er denn die ganze Nacht bei diesem schrecklichen Licht lesen? Was soll denn das – in so jungen Jahren schon eine Brille tragen zu müssen?… Da liegt er im leichten Nesselhemd, barfuß … Warum haben sie ihm denn keine Decke gegeben? Die Erde ist doch eisig, nachts herrscht starker Frost!
Plötzlich strömte Blut aus Ljudmilas Nase. Das Taschentuch wurde schwer, war ganz durchnässt. Ihr wurde schwindelig, alles verschwamm vor ihren Augen, sie glaubte einen Augenblick lang, das Bewusstsein zu verlieren. Sie kniff die Augen zusammen. Als sie sie wieder aufschlug, war die Welt, die durch ihr Leid lebendig geworden war, bereits verschwunden. Nur grauer Staub, vom Wind aufgewirbelt, tanzte über die Gräber; es war, als stiege bald von dem einen, bald von dem anderen Grab eine Rauchfahne auf.
Das Lebenswasser, das an die Oberfläche des Eises
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