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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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jede Nacht einen Koffer öffnete, eine Decke über den kleinen Diwan in der Ecke breitete und mit besorgter, leiser Stimme vor sich hin sprach.
    »Ich habe so ein Gefühl, als handle sie wie im Traum, wenn sie mit uns zusammen ist. Nachts aber wird ihre Stimme so lebhaft, wie sie vor dem Krieg war«, sagte er. »Mir scheint, sie ist krank – sie ist ein völlig anderer Mensch geworden.«
    »Ich weiß nicht«, erwiderte Alexandra Wladimirowna, »wir alle haben unseren Kummer. Es ist überall das Gleiche, und jeder leidet auf seine Weise.«
    Ihr Gespräch wurde durch ein Klopfen an die Tür unterbrochen. Viktor Pawlowitsch erhob sich. Doch Ljudmila Nikolajewna schrie aus der Küche: »Ich mache auf.«
    Keiner wusste, warum sie das tat, doch allen war aufgefallen, dass sie nach ihrer Rückkehr aus Saratow mehrmals am Tag im Briefkasten nachsah, ob nicht Post darin sei.
    Und wenn irgendjemand klopfte, stürzte sie eilig zur Tür.
    Auch jetzt, als sie die hastigen, fast laufenden Schritte hörten, warfen sich Viktor Pawlowitsch und Alexandra Wladimirowna einen Blick zu.
    Sie vernahmen die gereizte Stimme Ljudmila Nikolajewnas: »Nein, nein, heute gibt es nichts. Kommen Sie nicht so oft, ich habe Ihnen erst vor zwei Tagen ein Pfund Brot gegeben.«
    35
    Leutnant Viktorow wurde in den Stab zu Major Sakabluka, dem Kommandeur des in der Reserve stehenden Jagdgeschwaders, beordert. Der diensthabende Stabsoffizier, Leutnant Welikanow, sagte, dass der Major in einer U-2 zum Stab der Luftwaffe im Bezirk Kalinin geflogen sei und am Abend zurückkehre. Auf Viktorows Frage, weshalb er herbeordert worden sei, erwiderte Welikanow augenzwinkernd, dass die Angelegenheit möglicherweise mit dem Saufgelage und dem Skandal in der Kantine in Zusammenhang stehe.
    Viktorow warf einen Blick hinter den Vorhang, der aus einem Zeltumhang mit einem daran angeknöpften Wattekleidungsstück hergestellt worden war – das Klappern einer Schreibmaschine ließ sich von dort vernehmen. Beim Anblick Viktorows meinte der Kanzleichef, dessen Frage zuvorkommend: »Nichts, keine Briefe, Genosse Leutnant.«
    Die Stenotypistin, die Zivilbeschäftigte Lenotschka, schaute sich nach dem Leutnant um, blickte in den aus einem abgeschossenen deutschen Flugzeug erbeuteten Spiegel, ein Geschenk des gefallenen Fliegers Demidow, rückte die Feldmütze zurecht, verschob das Lineal, das auf dem Verzeichnis lag, welches sie gerade abtippte, und hämmerte wieder auf die Schreibmaschinentasten ein.
    Dieser Leutnant mit dem langen Gesicht, der dem Kanzleichef immer ein und dieselbe verzagte Frage stellte, machte Lenotschka ganz trübsinnig.
    Viktorow bog auf seinem Weg zurück zum Flughafen in Richtung Waldesrand ab.
    Ein Monat war bereits vergangen, seit das Geschwader aus dem Gefecht gezogen, das Gerät ergänzt und Ersatz für das ausgefallene Flugzeugpersonal gefunden worden war.
    Noch vor einem Monat hatte Viktorow den Norden, den er zum ersten Mal sah, als etwas völlig Neues, Fremdes empfunden. Das Leben des Waldes und des jungen Flusses, der sich zwischen den steilen Hügeln hindurchwand, der Geruch nach Moder und Pilzen, das Rauschen der Bäume – all das hatte ihn Tag und Nacht in Unruhe versetzt.
    Auf den Flügen hatte man das Gefühl, als erreichten die Erdgerüche die Kabine des Jagdflugzeugs. Dieser Wald, diese Seen atmeten den Hauch des alten Russland, über das Viktorow vor dem Krieg gelesen hatte. Hier, zwischen den Seen und Wäldern, zogen sich uralte Wege hin; aus diesen geradstämmigen Bäumen hatte man Häuser und Kirchen errichtet und Schiffsmasten behauen. Das Leben der alten Zeit war schon in sich versunken und verstummt, als noch der graue Wolf hier herumlief und Aljonuschka am Ufer des Flüsschens weinte, an dem entlang Viktorow jetzt zur Kantine der militärischen Einkaufsstelle ging. Er hatte den Eindruck, als sei diese vergangene alte Zeit irgendwie naiv, einfach, jung – als seien nicht nur die in den schmucken Häuschen wohnenden Mädchen, sondern auch die graubärtigen Kaufleute, Diakone und Patriarchen um tausend Jahre jünger als die neunmalklugen Fliegerburschen aus der Welt der schnellen Maschinen, automatischen Kanonen, Dieselmotoren, aus der Welt von Kino und Radio, die mit dem Geschwader des Majors Sakabluka in diese Wälder mitgekommen war. Das Symbol für diese vergangene Jugend war die Wolga, flink und schlank, eingebettet in bunte, steile Ufer, in das Grün der Wälder, in blaue und rote Farbornamente.
    Wie viele von ihnen,

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