Leben und Schicksal
gesprudelt war und Tolja aus dem Dunkel herausgetragen hatte, war versickert, verschwunden. Die Welt, die, für einen Augenblick ihre Ketten sprengend, selbst Wirklichkeit werden wollte, diese Welt, geschaffen von der Verzweiflung einer Mutter, war wieder entrückt. Ihre Verzweiflung hatte, gottähnlich, den Leutnant aus dem Grab erweckt, hatte die Leere mit neuen Sternen gefüllt.
Eben war allein er auf der Welt gewesen, und dank ihm existierte alles Übrige. Doch die Kraft der Mutter hatte nicht länger die gewaltigen Menschenmassen, Meere, Straßen, die Erde und die Städte dem toten Tolja zu unterwerfen vermocht.
Sie führte das Taschentuch an die Augen; ihre Augen waren trocken, das Tuch aber nass vom Blut. Sie spürte, dass ihr Gesicht verschmiert war, mit klebrigem Blut verschmiert, und saß da in gekrümmter, ergebener Haltung, unwillkürlich die ersten kleinen Schritte der Erkenntnis vollziehend, dass Tolja nicht mehr lebte.
Die Leute im Lazarett hatte sie mit ihrer Ruhe und ihren Fragen verblüfft. Sie hatten nicht begriffen, dass Ljudmila nicht wahrhaben konnte, was für sie offensichtlich war: dass Tolja nicht mehr unter den Lebenden weilte. Die Liebe zu ihrem Sohn war so stark, dass die Macht des Geschehenen diesem Gefühl nichts anhaben konnte – es lebte weiter. Sie war von Sinnen, niemand hatte es bemerkt. Endlich hatte sie Tolja gefunden. So freut sich eine Katze, die ihr totes Junges gefunden hat und es ableckt.
Jahre von Leid, manchmal Jahrzehnte durchwandert die Seele, bis sie endlich langsam, Stein um Stein, das Grab über dem geliebten Menschen zu errichten beginnt, bis sie sich in seinen Tod findet.
Die Soldaten des Arbeitsbataillons waren nach verrichteter Arbeit gegangen. Die Sonne stand schon tief, und die Schatten der Grabtäfelchen wurden länger. Ljudmila war allein.
Sie überlegte, dass man Toljas Tod den Angehörigen und dem Vater im Lager mitteilen müsse. Dem Vater unbedingt. Dem leiblichen Vater. Woran hatte Tolja vor der Operation gedacht? Wie wurde er ernährt – mit dem Löffel? Hatte er wenigstens ein wenig geschlafen, auf der Seite oder auf dem Rücken? Er trank gern Wasser mit Zitronensaft und Zucker. Wie lag er jetzt da? War sein Kopf kahl geschoren?
Es musste an dem unerträglichen seelischen Schmerz liegen, dass ringsumher alles dunkler und dunkler wurde. Der Gedanke, dass ihr Leid ewig sei, überraschte sie – Viktor würde sterben, die Enkel ihrer Tochter würden sterben, doch sie würde immer noch trauern. Und als die Trauer wieder unerträglich groß wurde und das Herz sie nicht mehr aushalten konnte, verwischte sich aufs Neue die Grenze zwischen der Wirklichkeit und der Welt, die in Ljudmilas Seele lebte, und die Ewigkeit wich vor ihrer Liebe zurück.
»Weshalb Toljas Tod seinem leiblichen Vater, Viktor und allen Angehörigen mitteilen?«, überlegte sie. »Es steht doch noch gar nichts sicher fest. Lieber abwarten. Vielleicht wird alles noch ganz anders …«
Sie flüsterte: »Und du sag auch niemandem etwas! Es steht noch gar nichts fest, alles wird noch gut werden.«
Ljudmila deckte Toljas Füße mit dem Mantelschoß zu. Sie nahm das Kopftuch ab und breitete es über die Schultern ihres Sohnes.
»Mein Gott, so darf man dich doch nicht liegen lassen … Warum haben sie dir keine Decke gegeben? Deck dir wenigstens die Füße besser zu …«
Sie nickte ein; im Halbschlaf sprach sie mit ihrem Sohn, machte ihm Vorwürfe, dass seine Briefe so kurz seien. Sie erwachte und zog das Tuch wieder zurecht, das der Wind verschoben hatte.
Wie gut, dass sie zu zweit waren; niemand störte sie. Keiner liebte ihn. Alle sagten, er sei hässlich – er hatte aufgeworfene, dicke Lippen und ein seltsames Benehmen, er konnte manchmal sinnlos aufbrausen und war leicht gekränkt. Und auch sie liebte keiner; die Ihren entdeckten an ihr nur Unzulänglichkeiten … Mein armer Junge, mein schüchterner, unbeholfener, guter kleiner Sohn … Er allein liebte sie, und jetzt, nachts auf dem Friedhof, war er allein bei ihr, er würde sie nie verlassen … Und wenn sie eine alte Frau wäre, die keiner mehr brauchen konnte, würde er sie immer noch lieben … Wie wenig lebenstüchtig ist er doch! Niemals bittet er um etwas, ist schüchtern und lächerlich. Die Lehrerin sagt, dass sich in der Schule alle über ihn lustig machen – sie necken ihn und bringen ihn dazu, auszurasten und wie ein kleines Kind zu flennen. Tolja, Tolja, lass mich nicht allein!
Und dann kam der Tag. Eisig roter
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