Leben und Schicksal
Feuerschein flammte über der Steppe jenseits der Wolga auf. Donnernd fuhr ein Lastwagen die Straße entlang.
Der Wahnsinn war vergangen. Sie saß neben dem Grab ihres Sohnes. Toljas Körper war mit Erde zugeschüttet. Es gab ihn nicht mehr.
Sie sah ihre schmutzigen Finger, das auf der Erde ausgebreitete Kopftuch. Ihre Füße waren eingeschlafen. Sie spürte, dass ihr Gesicht schmutzig war. Ihre Kehle war wie ausgedörrt.
Alles war ihr gleichgültig. Hätte ihr jemand gesagt, dass der Krieg zu Ende, dass ihre Tochter gestorben sei, oder hätte sie plötzlich neben sich ein Glas heiße Milch und ein Stück warmes Brot stehen sehen – sie hätte sich nicht gerührt, nicht die Hand danach ausgestreckt. Sie dachte und fühlte nichts mehr. Alles war gleichgültig und überflüssig. Nur ein ständig wiederkehrender Gedanke quälte sie, presste ihr Herz zusammen, hämmerte gegen ihre Schläfen: Die Leute aus dem Lazarett und der Arzt im weißen Kittel hatten irgendetwas über Tolja gesagt; sie hatte ihre geöffneten Münder gesehen, doch ihre Worte hatte sie nicht vernommen. Auf der Erde lag ein Brief, der aus ihrer Manteltasche herausgefallen war; es war jener Brief, den sie aus dem Lazarett bekommen hatte; sie mochte ihn nicht aufheben und den Staub von ihm abstreifen. Sie dachte nicht mehr daran, wie der zweijährige Tolja geduldig und beharrlich hinter einer Heuschrecke hergestolpert war, die von Grashalm zu Grashalm hüpfte, auch nicht daran, dass sie die Schwester nicht gefragt hatte, wie er am Morgen vor der Operation, am letzten Tag seines Lebens, in seinem Bett gelegen hatte – auf der Seite oder auf dem Rücken? Sie sah das Tageslicht, sie musste es sehen.
Plötzlich erinnerte sie sich: Sie feierten Toljas dritten Geburtstag, am Abend hatten sie Tee getrunken und Kuchen gegessen, da hatte er gefragt: »Mama, warum ist es so dunkel? Heute ist doch mein Geburtstag!«
Sie sah die Zweige der Bäume, die im Sonnenlicht glänzenden Friedhofssteine, das Schildchen mit dem Namen ihres Sohnes – »Schaposchn« war mit großen Buchstaben geschrieben, »ikow« dagegen, offensichtlich aus Platzmangel, mit winzigen, eng aneinandergereihten Buchstaben danebengequetscht. Sie dachte nicht, sie hatte keinen Willen mehr. Sie hatte nichts mehr.
Sie erhob sich, nahm den Brief auf, streifte mit steifen Händen die Erdklumpen vom Mantel, reinigte ihn, säuberte die Schuhe und schüttelte ihr Kopftuch aus, bis es wieder weiß war. Sie band das Tuch um den Kopf, mit dem Zipfel entfernte sie den Staub von den Augenbrauen und wischte sich die Blutflecken von Lippen und Kinn. Dann ging sie, ohne sich noch einmal umzusehen, auf das Tor zu, nicht langsam und nicht schnell …
34
Nach ihrer Rückkehr nach Kasan begann Ljudmila Nikolajewna stark abzumagern und sah wieder so ähnlich aus wie auf ihren Jugendfotografien aus der Studentenzeit. Sie schaffte aus der Verteilerstelle Lebensmittel heran, bereitete die Mahlzeiten, heizte die Öfen, wischte die Böden und wusch die Wäsche. Es schien ihr, als seien die Herbsttage sehr lang und als habe sie nichts, womit sie ihre Leere ausfüllen könne.
Am Tag ihrer Rückkunft aus Saratow hatte sie den Ihren von ihrer Reise berichtet, hatte gesagt, dass sie über ihre Schuld gegenüber ihren nächsten Angehörigen nachgedacht hätte, und erzählt, wie ihre Ankunft im Lazarett verlaufen war; dann hatte sie das Paket mit den zerfetzten Überresten der blutgetränkten Uniform ihres Sohnes aufgemacht. Alexandra Wladimirowna atmete schwer bei Ljudmilas Erzählung, und Nadja weinte; Viktor Pawlowitsch zitterten die Hände, er konnte das Teeglas nicht vom Tisch aufheben. Die zu Ljudmilas Begrüßung herbeigeeilte Marja Iwanowna saß mit bleichem Gesicht da, den Mund halb geöffnet, in ihren Augen lag ein gequälter Ausdruck. Nur Ljudmila erzählte mit ruhiger Stimme und sah sie dabei mit ihren weit geöffneten, leuchtend blauen Augen an.
Sie stritt jetzt mit niemandem mehr, dabei war sie ihr Leben lang eine große Zänkerin gewesen. Früher hatte Ljudmila, wenn es darum ging, jemandem den Weg zum Bahnhof zu zeigen, aufgeregt und ärgerlich versucht, zu beweisen, dass man ganz und gar nicht durch diese Straßen gehen und mit diesen Trolleybuslinien fahren müsse.
Einmal fragte Viktor Pawlowitsch: »Ljudmila, mit wem unterhältst du dich denn nachts?«
Sie sagte: »Ich weiß nicht, vielleicht habe ich geträumt.«
Er fragte nicht wieder, doch Alexandra Wladimirowna erzählte er, dass Ljudmila fast
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