Leben und Schicksal
gehört?
War dies wirklich so gewesen? Sie hatte ihn umarmt und sein Haar gestreichelt; sie hatte geweint, und er hatte ihre nassen, salzigen Augen geküsst.
Manchmal überlegte Viktorow, wie man sich in einer Jak nach Stalingrad durchschlagen könnte, es waren ja nur wenige Stunden. In Rjasan könnte man auftanken und dann bis Engels fliegen, ein Bekannter von ihm war dort Diensthabender. Sollten sie ihn danach ruhig erschießen.
Es kam ihm immer wieder eine Geschichte in den Sinn, die er in einem alten Buch gelesen hatte: Die steinreichen Brüder Scheremetjew, Söhne eines Feldmarschalls, gaben ihre sechzehnjährige Schwester dem Fürsten Dolgoruki zur Frau. Das Mädchen sah seinen Bräutigam wohl nur ein einziges Mal vor der Hochzeit. Die Brüder statteten die Braut mit einer üppigen Mitgift aus; die Silbergeschenke füllten drei Zimmer. Doch zwei Tage nach der Hochzeit wurde Peter II. ermordet. Dolgoruki, sein Vertrauter, wurde gefangen genommen, in den Norden gebracht und in einen hölzernen Turm gesperrt. Die junge Frau schenkte den Versicherungen, dass man sie aus dieser Ehe befreien könne, da sie ja nur zwei Tage mit Dolgoruki verlebt habe, kein Gehör. Sie fuhr ihrem Mann nach und richtete sich in dem abgelegenen Waldgebiet in einer Dorfkate häuslich ein. Zehn Jahre lang ging sie jeden Tag zu dem Turm, in dem Dolgoruki saß. Eines Morgens sah sie, dass das Turmfenster sperrangelweit offen stand und die Tür nicht verschlossen war. Die junge Fürstin rannte die Straße hinunter, fiel vor jedem Entgegenkommenden, wer immer es auch sein mochte, ob Muschik oder Strelitze, auf die Knie, flehte und fragte, wo ihr Mann sei. Die Leute sagten ihr, dass man Dolgoruki nach Nischni Nowgorod gebracht habe. Vieles musste sie auf dem schweren Fußmarsch dorthin erleiden. In Nischni Nowgorod aber erfuhr sie, dass Dolgoruki gevierteilt worden war. Da beschloss die Fürstin Dolgorukaja, ins Kloster zu gehen, und fuhr in die Kiewer Petscherskaja Lawra. Am Tag der Nonnenweihe ging sie lange am Ufer des Dnjepr auf und ab. Aber nicht um ihre Freiheit trauerte Fürstin Dolgorukaja: Sie musste nun, da sie den Schleier nehmen wollte, den Trauring vom Finger ziehen und konnte sich nicht von ihm trennen … Viele Stunden wanderte sie am Ufer entlang; dann, als die Sonne unterging, zog sie den Ring vom Finger, warf ihn in den Dnjepr und ging zum Klostertor.
Der Leutnant der Luftwaffe, Waisenhauszögling und Schlosser in der Mechanikerwerkstatt des Elektrizitätswerkes »Stalgres«, musste immerzu an das Leben der Fürstin Dolgorukaja denken. Er ging durch den Wald und stellte sich vor, er wäre nicht mehr auf der Welt: Man hätte ihn verscharrt, sein vom Deutschen in Brand geschossenes Flugzeug hätte sich mit der Nase in die Erde gebohrt und wäre bereits durchgerostet und zerfallen, Gras wucherte in den Trümmern; Vera Schaposchnikowa irrte an dieser Stelle herum – sie bliebe stehen, stiege den Steilhang zur Wolga hinab, blickte aufs Wasser … Vor zweihundert Jahren aber ging hier die junge Fürstin Dolgorukaja, trat hinaus auf die Lichtung, schritt durch den Flachs, bog mit ihren Händen die mit roten Beeren übersäten Büsche auseinander. Und der Leutnant empfand bitteres Weh und süße Hoffnungslosigkeit.
Der kleine Leutnant, schmalschultrig, im abgetragenen Feldhemd, geht durch den Wald – wie viele von ihnen wurden vergessen in unvergesslicher Zeit.
37
Viktorow begriff noch auf dem Weg zum Flughafen, dass sich etwas Wichtiges ereignet hatte. Tankwagen fuhren über das Flugfeld; die Mechaniker und Bordwarte aus dem Bodenpersonalbataillon hasteten um die unter Tarnnetzen stehenden Flugzeuge herum. Der für gewöhnlich schweigsame kleine Motor der Funkstelle klopfte exakt und konzentriert.
»Alles klar«, dachte Viktorow und beschleunigte seine Schritte.
Er erhielt auch sogleich die Bestätigung, als er Solomatin begegnete, einem Leutnant, dessen Wangen mit rosa Flecken von einer Brandverletzung bedeckt waren. Der sagte: »Wir gehen aus der Reserve. Befehl.«
»An die Front?«, fragte Viktorow.
»Wohin denn sonst, etwa nach Taschkent?«, spottete Solomatin und entfernte sich in Richtung Dorf.
Er war sichtlich verstört; es hatte sich etwas Ernsthaftes zwischen ihm und seiner Zimmerwirtin angesponnen, und jetzt hatte er es wohl eilig, zu ihr zu kommen.
»Teilen wird Solomatin: für die Frau die Hütte und für sich die Kuh«, sagte eine bekannte Stimme neben Viktorow. Leutnant Jeremin, mit dem Viktorow im
Weitere Kostenlose Bücher