Leben und Schicksal
Paarverband flog, war den Pfad entlanggekommen.
»Wo sollen wir hin?«, fragte Viktorow.
»Kann sein, dass die Nordwestfront zum Angriff übergeht. Gerade ist der Divisionskommandeur in einer R5 angekommen. Ich kenne einen ›Douglas‹-Piloten beim Luftstab, den kann man fragen. Der weiß alles.«
»Warum fragen, sie werden es selber sagen.«
Erregung hatte nicht nur den Stab und die Flieger auf dem Flugplatz erfasst, sondern auch das Dorf. Der schwarzäugige Unterleutnant Korol mit den üppigen Lippen, der allerjüngste Flieger im Regiment, trug gewaschene und gebügelte Wäsche die Straße hinunter; oben auf der Wäsche lag ein Pfefferkuchen und ein Bündelchen getrocknete Beeren.
Man witzelte über Korol, weil ihn seine Wirtinnen, zwei alte Witwen, mit Pfefferkuchen verwöhnten. Wenn er einen Übungseinsatz geflogen hatte, wanderten die alten Frauen zum Flugplatz und trafen ihn auf halbem Weg – die eine hochgewachsen und gerade, die andere mit krummem Rücken. So ging er zwischen ihnen, ein verwöhnter Junge, wütend und verlegen, und die Flieger sagten, dass Korol in Reih und Glied mit einem Ausrufezeichen und einem Fragezeichen gehe.
Der Staffelkommandeur, Wanja Martynow, kam im Soldatenmantel aus dem Haus; in der einen Hand trug er ein Köfferchen, in der anderen die Parademütze, die er aus Furcht, sie zu zerdrücken, nicht eingepackt hatte. Die Tochter des Hauses, eine Rothaarige ohne Tuch auf der selbstgemachten Dauerwelle, schaute ihm mit einem Blick nach, der jeglichen Kommentar überflüssig machte.
Ein leicht hinkender Junge rapportierte Viktorow, dass der Politruk Golub und Leutnant Wowka Skotnoi, mit denen er zusammen einquartiert war, bereits mit ihren Sachen das Haus verlassen hätten.
Viktorow war vor ein paar Tagen in dieses Quartier umgezogen; zuvor hatte er mit Golub bei einer bösen Wirtin, einer Frau mit gewölbter, hoher Stirn und gelben Glupschaugen, gewohnt; wer in diese Augen blickte, dem rieselte es kalt den Rücken hinunter.
Um die Mieter loszuwerden, ließ sie Rauch in die Kate strömen und streute ihnen Asche in den Tee. Golub hatte Viktorow zugesetzt, dass er dem Regimentskommissar einen Rapport über diese Wirtin schreiben solle, doch Viktorow hatte abgelehnt.
»Soll ihr die Cholera den Garaus machen«, stimmte Golub zu und fügte einen ukrainischen Spruch hinzu, den er schon als Kind von der Mutter gehört hatte:
»Was auch immer an unseren Strand gespült wird – ist’s kein Schiet, dann ist es Kabeljau.«
Sie zogen in das neue Quartier um; es kam ihnen vor wie das Paradies. Doch nicht lange durften sie in diesem Paradies verweilen.
Bald ging auch Viktorow mit seinem Rucksack und dem zerdrückten Köfferchen an den hohen, zweigeschossig wirkenden grauen Katen vorbei; der lahme Junge hüpfte neben ihm her und zielte dabei mit der erbeuteten Revolvertasche, die ihm Viktorow geschenkt hatte, auf die Hühner und die über dem Wald kreisenden Flugzeuge. Er ging an der Kate vorüber, aus der ihn Jewdokija Michejewna mit ihrem Qualm ausgeräuchert hatte, und erspähte hinter der trüben Scheibe ihr regloses Gesicht. Niemand hielt ein Schwätzchen mit ihr, wenn sie Wasser vom Brunnen holen ging und dann mit ihren zwei schweren Holzeimern auf dem Rückweg zum Verschnaufen stehen blieb. Sie hatte weder eine Kuh noch ein Schaf, noch Mauersegler unter ihrem Dach. Golub hatte sich über sie erkundigt, hatte versucht, ihre Abstammung von Großbauern aufzudecken, doch es stellte sich heraus, dass sie aus einer Kleinbauernfamilie stammte. Die Frauen sagten, dass sie wohl nach dem Tod ihres Mannes den Verstand verloren habe: In der kalten herbstlichen Jahreszeit war sie in den See gegangen und tagelang darin sitzen geblieben. Die Männer hatten sie mit Gewalt herausgezogen. Doch, so sagten die Frauen, auch vor dem Tod ihres Mannes und vor der Heirat sei sie schon sehr verschlossen und schweigsam gewesen.
So ging nun Viktorow durch die Straße des Walddorfes, und in ein paar Stunden würde er für immer von hier fortfliegen, und all dies – der rauschende Wald, das Dorf, wo die Elche in die Gemüsegärten kamen, das Farnkraut, die gelben Harztropfen an den Bäumen, der Fluss, die Kuckucksrufe – würde für ihn aufhören zu bestehen. Verschwinden würden die Alten, die Mädchen, die Gespräche über die Kollektivierung, die Geschichten über Bären, die den Frauen die Himbeerkörbe stibitzt hatten, und über Jungen, die mit der nackten Ferse auf einen Schlangenkopf getreten waren
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