Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebendig und begraben

Lebendig und begraben

Titel: Lebendig und begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Finder Joseph
Vom Netzwerk:
Er war sechzehn Jahre alt, ein sehr kluges Kind, aber eindeutig verhaltensauffällig. Er hatte keine Freunde auf dem Jungeninternat in Washington, das er besuchte. Er kleidete sich vollkommen schwarz: schwarze Jeans, schwarzes Kapuzenshirt, schwarze Chuck Taylors. Erst kürzlich war er dazu übergegangen,auch sein Haar schwarz zu färben. Es ist nicht leicht, sechzehn Jahre alt zu sein, aber Gabe Heller schien es besonders schwerzufallen.
    Roger, mein entfremdeter Bruder, war, kurz gesagt, ein Vollidiot. Und er saß, wie unser Vater, im Gefängnis. Gabe hatte zum Glück nicht die Gene seines Stiefvaters, sonst hätte er vermutlich im Jugendknast irgendeine Strafe abgebrummt. Ich war wohl so ziemlich der einzige Erwachsene, mit dem er reden konnte. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, wieso schwierige Jugendliche einen Narren an mir fressen. Vielleicht ist es derselbe Instinkt wie bei Hunden, die Furcht riechen können. Sie wittern, dass ich nie Kinder hatte oder haben werde und folglich keine Gefahr darstelle. Egal, ich weiß es wirklich nicht.
    Gabe verbrachte den Sommer in der Wohnung meiner Mutter in Newton. Er besuchte im Rahmen des Sommerprogramms für Highschool-Studenten Kunstkurse. Er liebte seine »Nana« und wollte unbedingt von seiner Mutter Lauren weg. Die wiederum war zweifellos froh, dass sie sich nicht um ihn kümmern musste, wenn er nicht zur Highschool musste. Meine Mutter war nicht gerade sonderlich streng, also konnte er ungehindert in den Vorortzug steigen, in die Stadt fahren und am Harvard Square herumhängen. Ich bin sicher, dass er es genoss, sich wie ein Erwachsener zu fühlen.
    Aber ich glaube, er war vor allem deshalb gern in Boston, weil ihm das einen Anlass bot, mich zu besuchen, obwohl er es nie zugeben würde. Ich liebte den Jungen und genoss es, Zeit mit ihm zu verbringen. Auch wenn es nicht immer leicht war. Aber vieles, was sich wirklich lohnt, ist nicht leicht.
    Er saß an meinem Schreibtisch und zeichnete etwas in seinen Skizzenblock. Gabe war ein äußerst talentierter Comic-Zeichner.
    »Arbeitest du an einem Comic?«, begrüßte ich ihn, als ich das Büro betrat.
    »Es ist eine Graphic Novel«, erwiderte er steif.
    »Klar, richtig, Entschuldigung. Hab ich vergessen.«
    »Und, he, vielen Dank, dass du dich an unser Mittagessen erinnert hast.« Er trug ein schwarzes Kapuzenhemd, mit geschlossenem Reißverschluss und Schulterklappen, Ösen und D-Ringen. Ich bemerkte einen winzigen, goldenen Knopf in seinem linken Ohrläppchen, beschloss jedoch, ihn nicht darauf anzusprechen. Noch nicht.
    »Tut mir leid, Gabe. Wie läuft denn der Sommer so für dich?«
    »Langweilig.«
    Was in Gabes Terminologie bedeutete: der reine Wahnsinn. »Gehen wir etwas essen?«, schlug ich vor.
    »Ich falle gleich um vor Hunger.«
    »Das nehme ich mal als ein Ja.«
    Ich bemerkte, dass Dorothy an der Tür wartete. »Hören Sie, Nick«, meinte sie. »Diese Handynummer, die Sie mir gegeben haben … Ich bin nicht in der Lage, das Telefon zu lokalisieren.«
    »Das klingt aber gar nicht nach meiner Dorothy. Das klingt eher … schwarzseherisch«, erwiderte ich.
    »Das hat mit Schwarzseherei nichts zu tun«, erwiderte sie. »Und genauso wenig mit meinen Fähigkeiten. Sondern es hat etwas mit der Gesetzeslage zu schaffen.«
    »Hat Sie das jemals aufgehalten?«
    »Das ist keine Frage des … Oh, hallo Gabriel.« Ihr Ton wurde kühl.
    Gabe knurrte eine Erwiderung. Dorothy und er waren bereits mehr als einmal aneinandergeraten. Gabe hielt sich für klüger als sie, was vermutlich auch stimmte, weil er ein wirklich verstörend intelligentes Kind war. Er glaubte auch, dasser besser mit Computern umgehen könnte, was nicht der Wahrheit entsprach. Jedenfalls noch nicht. Trotzdem, er war sechzehn, was bedeutete, er hielt sich in so ziemlich allem für besser als jeder andere. Was Dorothy schlicht und einfach auf die Nerven ging.
    »Es geht um Folgendes«, fuhr sie fort. »Die Person, deren Telefon ich für Sie lokalisieren sollte …« Sie warf Gabe einen gereizten Blick zu. Sie war zwar immer diskret, was ihre Arbeit für mich anging, aber jetzt war sie besonders vorsichtig. Ihr war klar, dass ich nicht wollte, dass Gabe etwas über Alexa Marcus’ Situation erfuhr. »Können wir uns unter vier Augen unterhalten, Nick?«
    »Gabe, gib mir bitte zwei Minuten«, bat ich ihn.
    »Na schön!«, stieß er hervor und stürmte aus meinem Büro.
     
    »Klingt so, als würden sie den Fall tatsächlich übernehmen«, sagte Dorothy.

Weitere Kostenlose Bücher