Lebendig und begraben
Jahrzehnten nicht einen einzigen Cent verloren habe. Niemand konnte jemals eine derartige Bilanz vorweisen. Ich meine, selbst der unantastbare Warren Buffett hat vor zwei, drei Jahren fast zehn Prozent in den Sand gesetzt.«
»Was hast du gemacht, Marshall? Hast du irgendwelche albernen Erklärungen vorgeschoben wie Bernie Madoff?«
»Nein! Ich brauchte Bargeld. Und zwar jede Menge. Ich brauchte gewaltige Einkünfte. Und keine Bank der Welt hätte mir Geld geliehen.«
»Ah, verstehe. Du hast neue Gelder angenommen, damit es so aussah, als hättest du nichts verloren.«
Er nickte und zuckte mit den Schultern.
»Das ist trotzdem Betrug«, erklärte ich.
»Das war nicht meine Absicht!«
»Nein, natürlich nicht. Also, von wem hast du Geld genommen?«
»Das willst du nicht wissen, Nickeleh. Glaub mir, das willst du nicht wissen. Je weniger du weißt, desto besser.«
»Im Moment glaube ich, du solltest mir besser reinen Wein einschenken.«
»Sagen wir einfach, dass du diese Kerle nicht im Union League Club treffen würdest, okay? Das sind wirklich üble Leute, Nicki.« Sein linkes Auge begann zu zucken.
»Lass mich ein paar Namen hören.«
»Hast du schon einmal etwas von Joost Van Zandt gehört?«
»Bist du völlig übergeschnappt?« Van Zandt war ein holländischer Waffenhändler, dessen private Miliz Liberias mörderischen Diktator Charles Taylor unterstützt hatte.
»Verzweifelt träfe es wohl besser«, gab er zurück. »Wie wäre es mit Agim Grazdani? Oder Juan Carlos Santiago Guzman?«
Agim Grazdani war der Chef der albanischen Mafia. Sein Geschäftsbereich erstreckte sich auf Waffenhandel, Menschenhandel und Falschgeldhandel. Als Italiens Chefankläger vor einigen Jahren einen Haftbefehl gegen ihn ausstellte, endeten er und seine gesamte Familie im Gefrierschrank des Lieblingsrestaurants des Justizministers; in Portionen verpackt und eingefroren.
Seitdem haben die Chefankläger Italiens zu viel mit anderen Fällen zu tun, um sich um ihn zu kümmern.
Juan Carlos Santiago Guzman war der Anführer des kolumbianischen Drogenkartells Norte de Valle und einer der brutalsten Drogenhändler der Welt. Er hatte sein Äußeres durch etliche Schönheitsoperationen wiederholt geändert,lebte angeblich irgendwo in Brasilien. Neben ihm wirkte Pablo Escobar wie der nette Nachbar von nebenan.
»Und dann diese verdammten Russen«, fuhr er fort. »Stanislaw Luschin, Roman Nawrozow und Oleg Uspenski.«
»Mein Gott, Marshall, was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, stieß ich hervor.
»Ich dachte, ich könnte das Schiff mit neuem Bargeld wieder flott machen und wieder auf die Beine kommen. Aber es reichte nicht, um die ganzen Margin Calls zu bezahlen, die von mir angefordert wurden. Meine ganze Firma ist trotzdem den Bach runtergegangen.«
»Das neue Geld und das alte.«
Er nickte.
»Guzman, Van Zandt und Grazdani und die Russen«, erklärte ich.
»Richtig.«
»Du hast ihr Geld ebenfalls verloren.«
Er zuckte zusammen.
»Weißt du, als Bernie Madoffs Investoren alles verloren hatten, konnten sie nichts tun, als vor einem Richter zu heulen. Aber diese Kerle weinen nicht. Also, wer von ihnen hat sich deine Tochter geholt?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Ich brauche eine Liste von all deinen Investoren.«
»Du lässt mich nicht hängen? Danke.« Tränen stiegen Marcus in die Augen, und er umklammerte meine Unterarme mit seinen dicken Pranken. »Danke, Nick.«
»Eine vollständige Liste«, erklärte ich. »Jeden Namen. Keine Lücken.«
»Ja«, antwortete er. »Selbstverständlich.«
»Ich will auch eine Liste von all deinen Angestellten, den früheren und den jetzigen. Einschließlich deiner Haushaltshilfen, ebenfalls von früher und jetzt. Und Personallisten.«
Jemand klopfte an die Tür.
»Entschuldigen Sie die Unterbrechung«, erklärte Dorothy, »aber die Live-Einspeisung ist wieder aktiv.«
»Die Einspeisung?« Marcus klang verwirrt.
»Alexa«, sagte sie. »Der Videostream ist wieder online.«
28. KAPITEL
Wir drängten uns um den Monitor. Marcus beugte sich auf seinem Stuhl vor, während Dorothy auf der Tastatur herumtippte.
»Es ist gerade hereingekommen«, sagte Dorothy.
Der Bildschirm zeigte dasselbe Foto von Alexa als Mädchen. Darüber lag mit grünen Buchstaben die Schrift LIVE und ENTER CHAT. Dorothy fuhr mit dem Mauszeiger darauf und klickte.
Dann tauchte Alex’ Gesicht wieder auf. Es war dieselbe extreme Nahaufnahme. Tränen rannen ihr über die Wangen.
»Dad?«, sagte sie. Sie
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