Lebens-Mittel
ihr Nährstoffgehalt in Abhängigkeit von allem Möglichen schwankt – der Sorte, der Bodenbeschaffenheit, dem verwendeten Anbausystem (biologisch? Konventionell?), ihrer Frische – kranken diese Tabellen an ihren eigenen Ungenauigkeiten.
Kein Wunder, dass man als Ernährungswissenschaftler eigene Zweifel hinanstellen muss.
»Sie können es nicht wissen«, fuhr Nestle fort. »Schätzen die Leute den Verzehr von Dingen, von denen sie meinen, die Wissenschaftler würden sie für schlecht halten, unbewusst zu niedrig ein, oder schätzen sie den Verzehr von Dingen, von denen sie meinen, die Wissenschaftler würden sie für gut halten, unbewusst zu hoch ein? Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich beides. Das Berichtsproblem ist sehr ernst. Wir müssen fragen: Wie exakt sind die Angaben?«
Es ist nicht so, dass die Epidemiologen, die FFQs entwickeln und anwenden, deren Grenzen nicht kennen würden. Einige von ihnen, zum Beispiel Walter Willett, bemühen sich heldenhaft, die fehlerhaften Angaben in Ordnung zu bringen, indem sie »Energieabgleichungs«-Faktoren einführen; sie sollen die Tatsache korrigieren, dass die bei Umfragen berichteten Kalorienangaben stets falsch sind; komplizierte »Messfehler«-Berechnungen sollen die Fehler in den 24-Stunden-Recalls korrigieren, die ihrerseits eingesetzt wurden, um die Fehler in den FFQs zu korrigieren.
Gladys Block ist die prominente Epidemiologin, die den FFQ entwickelt hat, auf dem die Umfrage der Women’s Health Initiative beruht. Wir trafen uns in einem Café in Berkeley, wo sie Professorin an der School of Public Health ist. Block, die auf die Pensionierung zugeht, war ungewöhnlich nachdenklich, was die Grenzen ihres Feldes angeht, und entwaffnend ehrlich. »Es ist ein Chaos«, sagte sie und meinte nicht den FFQ selbst, sondern die verschiedenen Formeln und Berechnungen, mit denen Fehler in den Angaben korrigiert werden. »Denn wenn die Energie [das heißt die berichtete Kalorienaufnahme] weg ist, sind auch die Nährstoffe weg. Wenn Sie also die Kalorien korrigieren, korrigieren Sie auch …« Sie hielt inne und seufzte. »Wirklich, ein Chaos.«
Block meint, das Problem mit der Ernährungswissenschaft, das uns ihrer Meinung nach »in die Irre geführt hat«, wäre nicht der FFQ selbst, sondern die Fehl- und Überinterpretation der aus dem FFQ abgeleiteten Daten. Der Fragebogen an sich ist für sie ein Instrument, an das sie realistische, aber überraschend bescheidene Ansprüche stellt: »Das eigentliche Ziel des FFQ besteht darin, Leute in eine Rangfolge zu bringen«, und zwar im Hinblick auf ihren relativen Verzehr von zum Beispiel Obst und Gemüse, oder auf ihre Gesamtkalorienaufnahme. »Wenn jemand angibt, er würde fünfhundert Kalorien am Tag zu sich nehmen, ist das offensichtlich nicht wahr, aber Sie können sagen, dass er sich wahrscheinlich am unteren Ende des Spektrums befindet. Die Leute machen sich zu viele Gedanken um die Genauigkeit.«
Das war nicht gerade das, was ich von einer Epidemiologin zu hören erwartet hatte. Den folgenden Satz übrigens auch nicht: »Ich glaube nichts mehr von dem, was ich in der Ernährungsepidemiologie lese. Ich bin heute sehr skeptisch.«
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Die Kinder des Nutritionismus
Was bedeutet das alles für uns Esser? Eine Verunsicherung in Bezug auf das Essen, die größer ist als je zuvor in der Geschichte, lautet meine völlig unwissenschaftliche Schlussfolgerung. Allerdings gibt es Ansätze zu einer – zugegebenermaßen eher weichen – Wissenschaft; sie hat einen Teil der Verunsicherung aufgefangen, die von der vermeintlich exakteren Ernährungswissenschaft im amerikanischen Seelenleben angerichtet wurde. Der Psychologe Paul Rozin von der University of Pennsylvania hat sich ein paar der fantasievollsten Erhebungsfragen einfallen lassen, die amerikanischen Essern je gestellt wurden; die Antworten, die er zusammengetragen hat, zeigen ziemlich gut, wie viele Nebelschwaden und Ängste derzeit das Essen begleiten. Zum Beispiel hat er festgestellt, dass die Hälfte von uns glaubt, in kleinen Mengen verzehrte kalorienreiche Lebensmittel würden mehr Kalorien enthalten als in sehr viel größeren Mengen verzehrte kalorienarme Lebensmittel. Und ein Drittel von uns würde glauben, eine Ernährung ganz ohne Fett – ein Nährstoff, der, nicht zu vergessen, für unser Überleben unentbehrlich ist – wäre besser für uns als eine Ernährung, die auch nur eine »Prise« von ihm enthält. In einem Experiment zeigte er das Wort
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