Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebensbilder I (German Edition)

Lebensbilder I (German Edition)

Titel: Lebensbilder I (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
ohne Erhörung für sie seufzen, nur um noch seufzen zu können!«
    Ich hielt inne, und eine ganze Last war mir vom Herzen. Ich fühlte mich so wohl, so groß und erhaben, wie ich all die erschrockenen Gesichter betrachtete, die ängstlich zu spähen schienen: ob dies Scherz oder Ernst, ob zu weit getriebene Ekstase, oder ob ich, von eigener Phantasie berauscht, beim Lesen toll geworden sei. – Ich riß sie endlich aus dem Traum, nahm mein Manuskript und zerriß es in hundert Stücke, die ich wegschleuderte, worauf ich den Saal verließ.
    Was weiter geschah, weiß ich nicht, und Rastignac hat es mir nie gesagt. Ich glaube, Feodora war in Ohnmacht gesunken, und alle Welt tröstete sie und verwünschte und verdammte meine Ungezogenheit in so beleidigenden Ausdrücken, daß er es füglich nicht mir erzählen konnte. – Natürlich! darauf war es ja abgesehen. Ich hatte meinen Mut an ihr und dem ganzen Salon mit gekühlt.
    Nach meiner Meinung durfte sie sich, auf solche Weise gedemütigt, in der großen Welt nie wieder zeigen; ich bedachte nicht, daß diejenigen, die dort figurieren, eine eiserne Stirn haben. Der Mut, schlecht sein zu wollen, ist größer als der Mut, eine üble Nachrede zu ertragen. Vielleicht sagt denen, die solch ein Spiel treiben, das Gewissen mehr, als irgend raffinierte Medisance erfinden kann.
    »So macht Gewissen Feige aus uns allen!«
    Wer seinem Gewissen trotzt, trotzt allem, und wer so roh ist, diese innere Stimme zu überhören, hat sicher nicht das Zartgefühl, sich um die Meinung anderer zu kümmern. – Aber teuer, fürchterlich teuer, mit meinem ganzen Selbst mußte ich den augenblicklichen Triumph bezahlen. – Mein Vermögen hatte ich geopfert; meine Arbeiten widerten mich an! – Denn, wird man es mir glauben? – verliebter als je war ich in Feodora, der bittersten Reue und Selbstanklage gab ich mich preis, gegen das schöne, holde und – wehrlose Weib also mich vergangen zu haben, und – o wunderbares Phänomen des menschlischen Gemüts – je verwerflicher, schlechter ich sie mir schilderte, desto liebenswerter dünkte sie mir – und je edler, tugendkräftiger ich selbst mich darzustellen bemühte, desto mehr in Liebe zu ihr fühlte ich mich entbrannt. – Ich stand an einem Abgrund, wo man von dem Leben und der Welt sich ergriffen sieht, die kein Geist der Wahrheit beherrscht, sondern der rohe Dämon der Begier und Sinnlichkeit. – Da sagte ich denn meinem guten Genius Lebewohl und ward der ärgste Schwelger und Schlemmer. Mit solcher Energie erfaßte ich das Lotterleben, daß ich es bald zu einer traurigen Berühmtheit darin brachte. Meine Spießgesellen achteten mich hoch, und das tat mir wohl. Madame Gaudin sah mit teilnehmenden Blicken, mit ihren von Gram gefurchten Zügen wehmütig mich an, wenn ich nach Mitternacht heimkehrte und wenige Stunden bis zur Dämmerung schlief. Ich mißhandelte sie durch Spott und Hohn. Dies Leben setzte ich fort, bis meine Schulden nicht mehr zu vergrößern waren, bis von all meinen Kostbarkeiten mir nichts mehr übrig blieb als der Wert eines einzigen Goldstücks. – Und doch hatten die armen Leute, denen ich schuldete, mir ein unbegrenztes Vertrauen erwiesen, doch hatten sie stets von meinen Lügen sich hinhalten und beschwichtigen lassen, und ich verachtete diese Gutmütigkeit, dieses Vertrauen. – Nur einmal gehorche man dem wilden Menschentriebe, der Gereiztheit unserer Brust – man baue dann auch noch so sehr auf Recht und Fug und Wert, dünke sich noch so tugendkräftig, energisch und edel, – der rohe Dämon, einmal entfesselt, ruht nicht eher, als bis er uns zur tiefsten Stufe menschlicher Versunkenheit gejagt; vor allem die, die etwas Ganzes sein wollen. Er macht uns zu Mördern an uns selbst oder andern.
    Eines Abends sagte ich meiner Wirtin: »Gute Nacht, Madame Gaudin! Meinen Dank für Ihre Freundschaft und Sorge! Ich bin Ihnen Geld schuldig, machen Sie sich bezahlt mit Bett und Möbeln. Meine Gitarre gehört Paulinen, die sie mir zum Andenken bewahren mag, denn ich verlasse Paris für ewig.«
    »Um Gottes willen, Herr Raphael!« rief sie, und Tränen stürzten aus ihren Augen; sie sank schluchzend in ihren altväterischen Lehnstuhl.
    Ich war ärgerlich, weil Sie mich fast gerührt hätte. »Schonen Sie sich, weil Sie hysterisch sind,« sagte ich trocken. Ich ging, mein letztes Goldstück in der Tasche und –
    Wohin er ging, weiß der Leser.

III. Die Gutherzige
    An einem regnerischen Dezembertage wanderte ein mindestens

Weitere Kostenlose Bücher