Lebensbilder I (German Edition)
sechzigjähriger Greis durch die Rue de Varennes und blieb, des schlechten Wetters ungeachtet, vor jedem Hotel stehen, um nach der Adresse des Herrn Marquis von Valenti emsig zu forschen. Der Alte schien von Leiden nicht minder als von Jahren niedergebeugt, und in den Runzeln und Furchen seines vom langen, greisen Haare spärlich umflatterten Angesichts lag Beharrlichkeit, Ernst und Starrheit. Er hatte endlich sein Ziel gefunden und pochte an die Pforte eines prächtigen Hotels.
«Ist Herr Raphael zu Hause?« fragte er den betreßten Schweizer: dieser tauchte eine bedeutende Butterschnitte in eine große Bowle Kaffee, schob sie lüstern in den Mund und gab schmatzend zur Antwort: »Der Herr Marquis empfangen niemand.«
Der Alte deutete auf eine völlig angeschirrte Equipage, die unter einem hölzernen, zeltartigen Schauer hielt: »Da steht sein Wagen,« sagte er, »ich will warten, bis er einsteigt.«
»Da könnt Ihr bis morgen und noch länger warten,« erwiderte der Schweizer. »Ein Wagen steht beständig für den Herrn ln Bereitschaft, wenn er auch nicht ausfährt. Aber geht! geht, guter Vater, ich bitte Euch sehr, denn ich verliere eine Leibrente von jährlich 600 Franken, wenn ich ohne seinen Befehl jemanden einlasse.«
Indem erschien ein alter, in seines Schwarz gekleideter Diener und schritt hastig und lautlos die mit Decken belegten Treppen herab, überhaupt herrschte lm ganzen Palast eine unheimliche Stille.
»Da ist Herr Jonathan,« sagte der Schweizer, »reden Sie mit dem!«
Jonathans ernstes Ansehen schien mit dem Geheimnis des öden Palastes in naher Beziehung zu stehen. Als Raphael nämlich die unermeßliche Erbschaft seines Oheims erhoben hatte, war es seine erste Sorge gewesen, jenen alten Diener, der so wohlwollend damals ihm riet: »Seien Sie nur recht sparsam, Herr Raphael!« auszufinden und zu sich zu nehmen. Jonathan weinte vor Freude, seinen jungen Herrn wiederzusehen, was er nimmermehr gehofft, und weinte vor Freude, als dieser ihm die wichtige Funktion eines Intendanten übertrug. Seitdem schaltete er über das ganze Vermögen seines Herrn, übte dessen Befehle blindlings, streng und pünktlich aus und war gleichsam der Vermittler zwischen diesem und der Welt, Raphaels sechster Sinn, der ihn mit den Erscheinungen des Lebens in Beziehung brachte.
Der greise Diener und der greise Fremde betrachteten sich aufmerksam und nicht ohne Überraschung. Sie schienen sich zu kennen.
»Mein Herr, ich wünsche sehr, den Herrn Marquis zu sprechen.«
»Sprechen? den Herrn Marquis? das darf ich kaum, mein Herr! und habe ihn doch auferzogen, und meine Frau hat ihn gesäugt!«
»Aber auch ich habe ihn auferzogen, mein Herr, und wenn Sie ihn an die Brust Ihrer Frau gelegt, so legte ich ihn an die Brüste der Weisheit und der Musen.«
»Wären der Herr etwa Herr Professor Perriguet?«
»Freilich! aber, mein Herr –!«
»Stille!« rief Jonathan in die Küche hinein, wo zwei Mägde sich viel zu laut für das heilige Schweigen des Hauses machten.
Befremdet über die Geheimnisse, fragte der Greis: »Der Herr Marquis sind doch nicht krank?«
»Bester Herr Perriguet,« nahm Jonathan wieder das Wort, »weiß der Himmel, was ihm fehlt. Vor etwa zwei Monaten kaufte er dies Haus, ein Herzog und Pair hatte es vor ihm besessen. Für das Ameublement gab er dreimalhunderttausend Franken aus. Eine schöne Summe, dafür ist aber auch jedes Zimmer ein Wunder. Gut, dachte ich bei mir, er macht's wie der selige Herr, sein Vater, und wird den ganzen Hof, die ganze Stadt bei sich sehen. Aber nein! niemand sieht er bei sich und führt ein seltsames und unbegreifliches Leben. Täglich steht er zur selben Stunde auf, nur ich darf seine Gemächer betreten, und winters und sommers öffne ich Punkt sieben Uhr und sage: ›Herr Marquis, Sie müssen aufstehen und sich ankleiden.‹ Dann reiche ich ihm seinen Schlafrock, lege ihm die Zeltungen stets auf denselben Fleck, barbiere ihn zur bestimmten Minute, und der Koch würde sein Gehalt verlieren, wenn nicht Frühstück und Diner präzis auf dem Tische stehen. Ist das Welter gut, so komme ich und sage: ›Herr Marquis, Sie müssen ausfahrend worauf er dann antwortet: ja oder nein; sagt er ja, so steht hier schon sein Wagen, und die Pferde sind angeschirrt: der Kutscher wacht unerbittlich mit der Peitsche daneben, wie Sie hier sehen. Punkt acht Uhr ist er wieder zu Hause, und Punkt elf geht er zu Nette. Die übrige Zeit hindurch liest und schreibt er immerwährend. Ich muß alle
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