Lebensbilder I (German Edition)
Gelang uns nur diese letzte Tat? War dies Gelingen ein Almosen des Glücks, dem es wieder einfiel, Frankreich auf den geschichtlichen Schauplatz zu erheben? Sind wir solche Glückspilze der Größe, daß der Glanz einer einzigen gelungenen Tat dermaßen uns selbst verblendet, daß wir, seiner entwöhnt, über uns selbst uns wundern und im eignen, selbstgeschaffnen Beifall uns berauschen? Nein! Laßt uns Wahrheit suchen, Wahrheit hören, wo sie laut wird, und fragen wir uns: was ist Frankreich, was bedeutet der Name Franzosen jetzt in Wahrheit? Bezeichnet dieser Name immer noch den braven, edlen, hochherzig gesinnten Mann? – Ach nein! – Der Name ist außer Kurs gesetzt, nicht von Ausländern, von uns Franzosen selbst. Der Franzose traut nicht mehr dem Franzosen; der Republikaner nur dem Republikaner, der Liberale nur dem Liberalen; der Bonapartist nur dem Bonapartisten. Und wenn ein Ausländer fragt: gibt's keinen Geist in Frankreich mehr, würdig des Vertrauens der ganzen Nation? oder ist die Nation nicht mehr fähig, einem ihrer Geister zu vertrauen? – was sollen wir darauf antworten? – Ja, so ist's! und weil's so ist, muß es gewiß so sein; vielleicht trägt die traurige Gegenwart in Zukunft gute Früchte. – Dem echten Patrioten aber zerschneidet es das Herz, daß die Nation, die den Namen der großen einst sich errang, jetzt all' ihre geistigen und physischen Kräfte zersplittert, verschwendet und vernichtet in einem Streben nach etwas, das nur durch Bescheidenheit, Vertrauen und Ruhe zu einem Ziele führt; durch Anmaßung, Parteisucht und im Rausch eines leidenschaftlichen Temperaments nur Unsinn und Unheil zuwege bringt.«
»Bravo! Bravissimo!« riefen die älteren Mitglieder der Gesellschaft, »noch nie wurde die Mäßigkeit mit so unmäßigem Enthusiasmus verfochten!«
»Das ist's,« fuhr Raphael fort, »was dem Autor zu sagen ziemt, der seine Zeit richten, nicht von ihr sich hinreißen lassen soll. Aber hier sitzen ja so manche Stimmführer der öffentlichen Meinung, und sie wissen es selbst am besten, wie sie's treiben, auf welche Weise die Worte: Freiheit, allgemeines Wohl und Menschheit von ihnen gebraucht werden, wie sie den Journalismus zur Mode, Religion und Modereligion erheben, um als Priester der Göttin »öffentliche Meinung« all jene Pfaffenränke zu begehren, um deretwillen sie die Pfaffen und Jesuiten nicht genug anschwärzen und verdammen können. Wahrlich, es gibt Jesuiten der Aufklärung, wie Jesuiten der Finsternis; die letzten sind nicht mehr gefährlich, und von den ersten, von euch, ihr Journalisten, steht zu wünschen, daß Frankreich euer Treiben bald durchschaue. Ich möchte euch fragen: ob euer prahlerisches, ephemeres Streben euch selbst nicht anwidert? Aber es gibt keinen Autor, keinen Dichter in Frankreich, der nicht ebenfalls nur Tagesinsekt wäre, der nicht löge, wo sein Interesse es begehrt, nicht aus Absicht, sondern aus persönlicher Befangenheit in seinem Interesse. Nennt mir den Franzosen, des angeborenes Genie, der Zeit und allen Hindernissen trotzend, über sein Volk sich erhöbe, es zu beseelen, zu bessern und zu sich heranzubilden! – Nein! All und jeder dient der Zeit, der Gelegenheit und dem Publikum, zu dessen Sklaven er sich laut bekennt. Seinen Dichternamen macht er zur Handelsfirma eines Krämers, seine poetische Unsterblichkeit verkauft er für den Ruhm eines Fabrikanten, der kaufenswerte und abgängige Ware liefert. Wie ein Bankier mit Staatspapieren, so spekuliert er mit seinen Versen und besingt allemal die Zeitereignisse, die den besten Kurs haben. – Blickt umher, welche Genien unsere Nachbarländer gebaren! Frankreich hat keinen Shakespeare, keinen Calderon, keinen Dante. Ja! unsere alteren Dichter haben wir entthront, die höfisch zugestutzte Allongeperücke Racines, den geistvollen Popanz Voltaire, und dafür gewonnen: was? – Etwa die französische Auflage des Lord Byron, Casimir de la Vigne, oder de la Martine, der mit Krönungssalböl schreibt, oder die poetische «drapeaublan Chateaubriand! Kann Frankreich im Vergleich mit seinen Nachbarländern auf diese Genien stolz sein? – Hier ist das Feld, wo Frankreichs Dichter und Schriftsteller für Frankreichs Ehre zu sorgen haben, und weil sie alle es hier versäumen, lassen sie alle Frankreichs Ehre und ihre eigene aus den Augen. Demungeachtet sind sie die lautesten Wortführer und Eiferer, um die Nation zu lehren, was zu tun sei. Wie voreilig! Beweist zuvörderst euer Genie, beweist,
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