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Lebensbilder II (German Edition)

Lebensbilder II (German Edition)

Titel: Lebensbilder II (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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und arbeitete mit unermüdlicher Emsigkeit. Ein Stück trockenes Brot lag vor ihr, unentschieden, ob es ihr die Nacht hindurch zur Nahrung dienen oder ihr den Lohn ihrer Mühe vergegenwärtigen solle.
    Der Fremde weinte vor Mitleid und konnte sich nicht von dem zarten Bilde der fleißigen Stickerin trennen. Er halte eine Börse mit etwa zehn Goldstücken bei sich. Rasch war sein Entschluß gefaßt, er drückte eine Scheibe ein und warf die Börse hindurch, der jungen Stickerin gerade in den Schoß, und eilte, ehe sie sich noch von ihrem Schrecken erholt hatte, mit pochendem Herzen und glühenden Wangen davon.
    Am andern Morgen ging er, scheinbar ganz ruhig und den Kopf voller Geschäfte, vorüber, dennoch entging er der Belohnung nicht, die seiner wartete.
    Karoline öffnete das Fenster, blickte ihren Wohltäter mit nassen Augen an und mit einer stummen Gebärde, als wollte sie damit verkünden: »Nicht Worte sprechen den Dank aus, nur das Herz fühlt ihn.«
    Der Fremde schien nichts von all dem verstehen zu wollen. Nur am Abend spät schlich er leise noch einmal an den Fenstern vorüber, sah eine Weile dem lieben Kinde bei seiner Arbeit schweigend zu, und ehe sie noch seine Anwesenheit ahnen konnte, machte er sich kopfschüttelnd auf den Heimweg. –
    Von der Zeit an erschien der schwarze Herr nicht mehr in der Rue de Tourniquet und schlug einen andern Weg ein, wenn er an seine Geschäfte ging.
    An einem heiteren Maisonntage, wo die schmale Strecke Himmel recht heiter über die schwarzen Mauern, die sie begrenzten, erschien, sprach Karoline zu ihrer Mutter, indem sie die neuen Blumentöpfe begoß und pflegte: »Liebe Mutter, laß uns heut nach Montmorency gehen, wir haben in sechs Monaten keine frische Luft genossen!«
    Madame Crochard zog einen rotbraunen Merinoüberrock an, setzte einen Seidenhut auf und nahm ihr unechtes Kaschmirtuch um und ging so mit ihrer Tochter nach der Ecke der Rue du Fauburg St. Denis und der Rue Enghien zu, um sich dort ein Fuhrwerk auszusuchen. Karoline, in einem weißen Kleide mit staubfarbigem Gürtel und ebensolchen Schuhen, folgte ihr. Ein Strohhut mit rosenfarbnem Futter verbreitete ein wundersames Kolorit über die zarten Züge. Ihre Haare waren mitten auf der Stirne gescheitelt, die wie Alabaster glänzte und samt den heiteren Augen, die von Vergnügen und Zufriedenheit strahlten, ein Bild ihrer Seelenreinheit gewahrte.
    Bevor sie die Ecke erreichten, um unter den Fuhrwerken von der mannigfachsten Gestalt und Form das bescheidenste sich auszusuchen, sahen beide Spaziergängerinnen ihren schwarzen Herrn ruhig dastehen, als warte er auf irgend etwas.
    Lange schien er unentschlossen, ob er sich den Damen nicht zum Führer anbieten sollte. Endlich mietete er ein Kabriolett nach Saint-Leu-Taverny und bot Mutter und Tochter einen Platz an. Die Alte ließ sich nicht lange nötigen. Erst als der Wagen schon auf dem Wege nach St. Denis war, fiel es ihr ein, dem Fremden einige Artigkeiten zu sagen, der Ungemächlichkeiten halber, die sie und ihre Tochter ihm verursachten.
    »Sie wollten vielleicht allein nach Saint-Leu fahren,« begann sie mit großer Freundlichkeit, aber sie unterließ auch nicht, sich über die Mittagshitze zu beschweren und über ihren Katarrh, der, wie sie versicherte, sie nachts kein Auge zutun ließ.
    Man war auch kaum bis St. Denis gefahren, als die Alte in sanften Schlaf versunken schien.
    Ihre lauten Atemzüge jedoch kamen dem Fremden verdächtig vor, er runzelte die Stirn und sah die Alte mit sehr argwöhnischen Blicken an.
    Allein Karoline versetzte ganz unschuldig: »Sie schläft! – Sie muß sehr müde sein, denn der Husten hat ihr keine Ruhe gegönnt.«
    Statt aller Antwort lächelte der Fremde Karoline mitleidig an, als ob er sagen wollte: »Gutes, schuldloses Geschöpf, du kennst deine Mutter nicht.«
    Nach Verlauf einer halben Stunde aber, als der Wagen auf der Pappelallee, die nach Eaubonne führt, im Sande ging, glaubte der schwarze Herr, annehmen zu dürfen, daß Madame Crochard wirklich schliefe, oder hielt er es nicht weiter für rätlich zu untersuchen, ob der Schlaf der Alten verstellt sei oder nicht.
    Wirklich schien es, als ob der heitere Himmel, die reine Landluft, der würzige Hauch des jungen Laubes und der Blüten sein Herz erweiterten. Ein längeres Schweigen schien ihm lästig. Karolinens blitzende Augen teilten die Unruhe der seinigen, und er begann mit seiner schönen Nachbarin ein Gespräch, lieblich und zwecklos wie die schwankenden

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