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Lebensbilder II (German Edition)

Lebensbilder II (German Edition)

Titel: Lebensbilder II (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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    In eben diesem Eckhause entdeckte man vor zwei Fenstern im Erdgeschoß zwei Frauenzimmer. Die erste war eine Alte, mit grauen Augen und so viel Runzeln im Angesicht, als die Mauer des Hauses Ritzen hatte: sie klöppelte Spitzen, aber ihre Finger waren vor Alter steif, und ihre Augen mußte sie mit einer Sehbrille bewaffnen.
    Vor dem andern Fenster aber saß ein reizendes junges Mädchen. Sie zeigte freilich den Vorübergehenden nur den schimmernden Nacken und war so emsig bei ihrer zarten Putzarbeit, daß sie niemals in die Höhe blickte.
    Niemand konnte an diesen Fenstern vorübergehen, ohne wehmütige Empfindungen beim Anblick des zarten, fleißigen Kindes in der schlechten, freudeleeren Wohnung zu hegen. Der eine wunderte sich über die Frische ihrer Gestalt in so ungesunder Gegend, der andere wollte wissen, daß sie zu der ärmlichen und schlechten Lebensart nicht geboren sei. – Kaufleute fragten sich: Was wird aus ihr werden, wenn die Stickereien aus der Mode kommen? Jünglinge schwelgten in Phantasien, wie sie die ärmliche Umgebung verschönern möchten. Lüsterne, alte Stutzer machten sich Hoffnung, durch ihre Reichtümer die Gunst der schönen Stickerin zu gewinnen.
    Fünfzehn Personen indessen gingen täglich, und jeder zu einer gewissen Stunde des Tages, vorüber, wenn es das Wetter erlaubte. Zum Teil waren es solche, die einen Posten auf dem Stadthause bekleideten, zum Teil andere Geschäftsleute, die, um zu ihrer Arbeit sich zu begeben oder davon heimkehrend, an diesen Fenstern vorbei mußten. Wenn ein solcher nun einen neuen Überrock an hatte oder eine Dame führte, bewog ein Ausruf der Alten wohl, die alles, was draußen vorging, beobachtete, daß auch das junge, hübsche Mädchen den Kopf auf einen Augenblick erhob, um ihr funkelndes, blaues Auge, ihren Rosenmund, ihre zartgeröteten Wangen zu zeigen. Aber nur auf einen Augenblick zeigte sie dies alles, denn sogleich senkte sie das Haupt wieder, und der Vorübergehende hatte nichts weiter zu bewundern als den weißen Nacken, dessen Glanz noch mehr durch das rabenschwarze Haar sich hob, welches zu einem zierlichen Knoten auf dem Schädel glatt in die Höhe gestrichen war.
    Nach allen diesen Voraussendungen wird der Leser folgende Worte verstehen, welche die Alte mit grauen Augen an einem Augustmorgen des Jahres 1815 der jungen Arbeiterin zuflüsterte:
    »Karoline, jetzt geht ein neuer Nachbar hier vorüber, dem keiner unserer alten Passagiere das Wasser reicht!«
    Das hübsche junge Mädchen blickte empor, da es schon viel zu spät war, und fragte: »Ist er schon vorbei?«
    »Er kommt um vier Uhr wieder,« versetzte die Alte, »und wie ich ihn sehe, will ich dir auf den Fuß treten. Er geht schon seit drei Tagen regelmäßig zu der Zeit vorüber und kommt mir sehr bekannt vor, sicher ist es ein Präfekturbeamter, der seine Wohnung verändert. – Oh, sieh einmal, da kommt unser Nachbar Graurock, er hat sich eine Perücke zugelegt, wie das den Mann alt macht.«
    Der Nachbar Graurock war gewöhnlich der letzte Passagier, und weil es nun weiter nichts zu sehen gab, setzte die Alte wieder ihre Brille auf und machte sich an die Arbeit.
    Nachmittags um vier Uhr hielt sie Wort und gab dem schönen Kinde das verabredete Zeichen mit dem Fuße. Jene erhob diesmal zeitig genug ihr niedliches Köpfchen, um die neue Erscheinung, die den Schauplatz betreten hatte, kennen zu lernen.
    Der Unbekannte war etwa ein Dreißiger und groß, schlank und bleich: er kleidete sich schwarz. Sein Wesen hatte etwas Feierliches. Mit scharfem, durchbohrenden Blicke betrachtete er die Alte, als wolle er sie durch und durch schauen. Er hielt sich sehr gerade. Die Blässe seines Antlitzes war entweder unermüdlicher Arbeit oder einer Krankhelt zuzuschreiben, so dachte nämlich die Alte. Karoline wollte in seinen Zügen den Ausdruck des tiefsten Leides finden. Auf der leise gefurchten Stirn, in seinen hohlen Wangen schienen Gram und Schmerz zu wohnen, sie konnte ihn ohne Teilnahme nicht betrachten.
    Es war das erstemal, daß einer der Vorübergehenden so viel Gedanken in ihr rege machte. Sie pflegte sonst nur allen Bemerkungen ihrer Mutter mit einem schmerzlichen Lächeln zu begegnen, zumal wenn diese, stolz auf die schöne Tochter, in jedem der Vorübergehenden einen Anbeter Karolinens sehen wollte.
    Acht Wochen vergingen, und Madame Crochard, so hieß nämlich die Alte, mußte zu ihrem Verdruß wahrnehmen, daß der schwarze Herr, denn diesen Namen hatte man ihm, zur

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