Lebensbilder II (German Edition)
Bezeichnung vor den anderen Vorübergehenden, gegeben, weder so regelmäßig wie jene vor ihren Fenstern erschien, und wenn er sich wieder zeigte, den Blick zu Boden geschlagen oder gen Himmel erhoben hatte, als wolle er seine Zukunft aus den Sternen lesen.
Eines Morgens früh indessen, als Karoline das Fenster geöffnet und ihr Köpfchen über die Blumen vor demselben hinausbog, kam der Fremde wieder die Straße her, und sein Auge traf sie mit einem seltsamen Ausdruck von Zartlichkeit. Karoline zog sich zurück, aber unwillkürlich hatte sie seinen Blick erwidert, und beide wußten, infolge dieses Blickes, daß sie aneinander dachten. Als der Unbekannte abends wieder kam, erkannte Karoline seinen Tritt. Er lächelte, weil sie aufsah: sie errötete. Von jenem Tage an ward sein Erscheinen regelmäßiger, täglich ging er zweimal vorüber, woraus die beiden Arbeiterinnen schließen wollten, daß sein Posten keine so regelmäßige Beschäftigung erforderte wie der eines unteren Beamten.
Bald ward die Erscheinung des Unbekannten der jungen Arbeiterin ein Bedürfnis, es fehlte ihr etwas, wenn er morgens nicht vorüberging. Der einzige Blick, mit dem beide sich begrüßten, war eine ganze Unterhaltung für sie. Karoline erriet oder glaubte zu erraten, wann der Fremde Kummer, Sorge, Verdruß gehabt. Der Unbekannte dagegen sah, daß Karoline den Sonntag benutzt hatte, ein Kleid zu vollenden. Wenn die Mietszeit vor der Türe war, dünkte es ihm, als ob er Bekümmernis auf ihrem reizenden Gesichte lese. Auch wenn sie die Nacht hindurch gearbeitet, glaubte er, es ihr ansehen zu können.
Der Winter trat mit vollem Grimme ein, und die Blumen erfroren in ihren Töpfen vor allen Fenstern. Der Unbekannte konnte jetzt seine geliebte Stickerin viel genauer betrachten, auch ihr reinliches Stübchen konnte er in Augenschein nehmen, nebst allem, was sich in demselben befand, und was von keinem Überflusse zeugte. Eines Tages sah er, wie das arme, fleißige Kind sich auf die Hände hauchte, um sie zur Arbeit zu geschmeidigen. Es schien ihm, als ob ihr Zimmer nicht geheizt sei, und das tiefste Gefühl des Mitleids faßte ihn an. Aber Karoline hob das Köpfchen und blickte mit ihren funkelnden Augen so freundlich ihn an, als ob sie nichts litte.
Demungeachtet kamen sie einander nicht näher. Einer kannte nicht einmal die Stimme des anderen. Es schien, als ob eine Ahnung, daß ihre Vereinigung nicht zum Glücke ausfallen würde, sie voneinander entfernt hielt, und am unzufriedensten darüber war die Mutter. Zu keiner Zeit hatte sie sich bitterlich darüber beschwert, in ihrem Alter noch kochen zu müssen. Sie hustete lauter, schien kränker als sonst und versicherte, mit ihren zitternden Händen nicht so viel Tüll verfertigen zu können, als Karoline nötig hatte.
Gegen Ende des Dezembers stiegen die Brotpreise dermaßen, daß man anfing, eine Teuerung zu befürchten, die auch wirklich eintrat und den Winter des Jahres 1816 den Armen so furchtbar machte. Damals bemerkte der Unbekannte zuerst Wolken auf Karolinens sonst so heiterer Stirn, auch ihre Augen schienen ihm minder strahlend und angegriffen von den durchwachten Nächten.
In einer stürmischen Winternacht führte der Heimweg den Fremden noch spät vor Karolinens Fenstern vorbei. Schon in der Ferne vernahm man die weinerliche Stimme der Alten und Karoline, die schmerzlich bemüht war, sie zu trösten.
Er schlich näher, und auf Gefahr, als ein Dieb ergriffen zu werden, blieb er lauschend vor den Fenstern stehen und bemühte sich, durch die Offnungen der Vorhänge, was sich im Zimmer begab, zu erspähen.
Auf dem Tische lag ein Papier, worauf beide hin und wieder blickten oder deuteten. Es schien der Grund ihrer Klagen. Die Alte weinte. Karoline wollte ihr Mut einstoßen, aber ihre Stimme verriet, wie sehr sie dessen selbst bedurfte.
»Warum trostlos? liebe Mutter,« sprach sie. »Herr Rigolet wird unsere Möbeln und Betten nicht verkaufen und uns nicht eher aussetzen wollen, als bis ich das Kleid fertig habe. Nur noch zwei Nächte Arbeit, und ich bringe es zur Gignard.«
»Und wenn sie dich aufs Geld warten läßt, wie immer? – und wenn sie es dir auch gleich gibt, reicht es hin, den Bäcker zu bezahlen?«
Es erfolgte ein neuer Ausbruch von Klagen, den Karoline nicht zu lindern imstande war. »Ich will arbeiten,« sprach sie, »das Klagen mindert nicht die Not.«
Bald veränderte sich der Schauplatz: die Mutter begab sich zur Ruhe, die junge Stickerin saß bei ihrem Werke
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