Lebenselixier
dieses
lächerlich massive Gitter etwas davon freiließ.
Das Gesicht wirkte eingefallen, tiefe Ringe lagen unter den Augen.
Vincente klopfte
das Herz bis zum Hals. Wie hatte es nur so weit kommen können? Er hatte
geglaubt, er könnte Hannah helfen, sich aus ihren Wahnvorstellungen zu
befreien. Welch ein Hochmut! Stattdessen hatte er sie in dieses Labor des
Grauens gebracht. Was stellten diese Wahnsinnigen mit diesem bedauernswerten
Jungen an? Gott im Himmel, er musste die Polizei alarmieren. Und dann würde er
seinem Bischof erklären müssen, wie er in diese Situation geraten war.
Walser sah
Vincentes Entsetzen und sein selbstgefälliges Grinsen wurde breiter.
„Ich weiß, was sie jetzt denken, Vater. Aber sie täuschen sich. Ich bin keineswegs
verrückt. Und das da“, Walser wies auf den Gefangenen, „ist alles andere als
ein Opfer.“
04
Der April hatte
sich von seiner launigen Seite gezeigt und der Mai blieb unfreundlich und
verregnet. Doch innerhalb der ersten Junitage kletterten die Temperaturen
prompt über die fünfundzwanzig Grad Marke.
Tony verbrachte bereits den ganzen Nachmittag damit, die Blumenkübel auf dem
Deck des Hausboots mit neuer Blütenpracht zu bestücken. Sie nahm sich bewusst
Zeit und genoss die Sonnenstrahlen. Immer wieder dehnte sie ihren Rücken, ließ
die Kulisse der Backsteinhäuser auf sich wirken und das frische Grün der
Baumreihen, welche die Gracht säumten. Dann winkte sie den Menschen aus aller
Welt in den verglasten Ausflugsbooten zu, die auf der Prinsengracht vorbeituckerten.
Es erinnerte sie daran, wie sie als Teenager erstmals Amsterdam besucht hatte.
Zusammen mit einer Horde Schulkameraden hatte sie ebenfalls in einem dieser
Touristenboote gesessen. Damals hatte sie sich gefragt, wie es wohl wäre, in
dieser Stadt zu leben. Natürlich hätte sie sich die Bedingungen, unter denen
sie sich jetzt hier aufhielt, in ihren wildesten Fantasien nicht ausgemalt.
„Tony!“, rief
eine fröhliche Stimme und riss sie aus ihrer Versunkenheit.
„Hallo, Maike!“
Die üppige Blondine stellte ihren Einkaufskorb neben sich auf dem Gehweg ab und
beschattete ihre Augen gegen die Sonne.
„Hast du heute keine Schule?“
Tony besuchte mehrmals in der Woche eine Sprachschule, lernte Niederländisch
und frischte ihre Englischkenntnisse auf. Wenn Bluttrinker unterschiedlicher
Nationalität aufeinandertrafen, sprachen sie zumeist Englisch.
„Erst morgen. Allerdings muss ich später noch büffeln. Die Prüfung in
Niederländisch ist nächste Woche fällig.“
„Da drück ich dir die Daumen. Aber vielleicht hast du ja doch ein Stündchen
Zeit? Ich bin auf dem Weg vom Markt beim Café vorbeigekommen und konnte einfach
nicht widerstehen. Ich brauche jemanden, der mir hilft, die Haselnusstörtchen
aufzuessen. Sie standen im Schaufenster und riefen nach mir: Nimm uns mit, nimm
uns mit! Wirklich, ich hatte keine Chance.“
Tony lachte. Sie war nicht der Meinung, Maike sei zu dick, und sie war sicher,
dass Jamal seine Gefährtin genau so liebte, wie sie war. Dennoch litt Maike
zuweilen darunter, nicht ganz dem modischen Diktat der Magerkeit zu
entsprechen.
„Das klingt verlockend. Du hast völlig recht, ich kann die Törtchen von hier
aus rufen hören.“
Tony beugte sich über das Geländer der Aufbauten. Maikes Blick glitt forschend
über ihr Gesicht und ihre Arme.
„Ich glaube, du solltest langsam aus der Sonne gehen“, mahnte sie.
Tony betastete ihre Wangen und Stirn. Es stimmte, ihre Haut brannte schon eine
ganze Weile. Sie hatte nur nicht darauf geachtet.
„Du siehst aus, wie ein Krebs“, verkündete Maike, unverkennbar belustigt.
„Frisch aus dem Kochtopf.“
„Mist!“ Tonys Genick fühlte sich wund an und ihre Unterarme glühten rosa. „Ich
hab das völlig vergessen.“
Sie hatte sich so über die Sonne gefreut. Es war wunderbar, die Wärme auf der
Haut zu spüren. Als Gefährtin war sie nicht an die Dunkelheit gefesselt wie ein
Bluttrinker. Aber durch ihre Adern floss jetzt ein guter Teil von Lukas
UV-empfindlichem Blut.
„Das verschwindet schnell wieder“, tröstete Maike. „Das passiert fast jeder, am
Anfang.“ Sie gab sich Mühe, ihr Grinsen zu unterdrücken. „Um fünf Uhr ist der
Kaffee fertig.“
Maike winkte noch einmal und steuerte wenige Häuser die Straße hinunter auf
eine dunkelgrün lackierte Haustür zu.
Tony packte eilig
die letzten Hängepetunien in einen Blumenkasten. Die Pflanzen sollten im Laufe
des Sommers einen farbenfrohen Vorhang bilden und
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