Lebenselixier
erstickte Stimme überzeugte ihn,
dass sie weinte. „Weil sie das Böse in ihre Seele gelassen hat, konnte es sich
auch an ihren Körper heranschleichen. Ich weiß es, seit ich heute Nacht ihr
Tagebuch gefunden habe. Ich wollte nicht glauben, was Lisa ihren Eltern erzählt
hat. Jetzt weiß ich, dass es wahr sein muss.“
Lisa war die
jüngste Tochter von Hannahs Nachbarn. Sie behauptete des Öfteren beobachtet zu
haben, wie Erika zu nachtschlafender Zeit die Terrassentür öffnete und einen
Mann ins Haus ließ, der wie ein Filmschauspieler aussah. Lisas Eltern sprachen
nicht mehr mit Hannah, seit sie das Kind auf offener Straße als Lügnerin
beschimpft hatte. Das war gleich am Nachmittag nach Erikas Verschwinden
geschehen. Angeblich war es dieser Fremde gewesen, der Erika in der Nacht ihres
achtzehnten Geburtstages abgeholt hatte. Mit einem schicken, silberfarbenen
Wagen. Sonst wollte keiner etwas gesehen oder gehört haben. Weder den Mann noch
das Auto.
Niemand, der Hannah kannte, wunderte sich, dass Erika ihren Freund vor ihrer
Schwester geheim gehalten hatte. Mehr als ein Klassenkamerad oder Nachbarsjunge
war in den vergangenen Jahren von Hannah aus dem Haus gejagt worden.
„Die meisten
jungen Mädchen sind sehr fantasievoll. Hast du daran gedacht, dass sie
vielleicht nur eine Geschichte erfunden hat?“
„Oh Vater, wie kann ich nur …“ Hannah schluchzte. „Aber wenn Sie es mit eigenen
Augen sehen, werden Sie ihre Meinung ändern. Bitte, Sie müssen es lesen. Sie
müssen sich selbst ein Urteil bilden.“
Das kam natürlich überhaupt nicht infrage. Schließlich hatte die junge Frau ihr
Tagebuch gewiss nur vergessen. Und wer wusste schon, wie ernst sie es gemeint
hatte, mit ihrer Ankündigung, nicht zurückzukommen? Wahrscheinlich stand sie
morgen wieder vor Hannahs Tür. Und sei es nur, weil sie und ihr Freund sich
gestritten hatten.
Vincente schüttelte bedächtig den Kopf. „Hannah, nein. Das geht wirklich nicht.
Ich kenne da jemanden, der dir bestimmt weiterhelfen kann. Er wird vielleicht
auch bereit sein, sich Erikas Tagebuch anzusehen. Ich weiß natürlich nicht, ob
das angemessen wäre ...“
„Sie wollen mich zu einem Arzt für Verrückte schicken, Vater, ohne zu wissen,
was genau vorgefallen ist?“
Erikas mit buntem
Stoff bezogene Chinakladde füllte Vincentes Aktentasche mit einem bleischweren
Gewicht. Er wurde wohl langsam alt. Vielleicht lag hier das Problem. Dabei
wusste er nicht, was ihm stärker zusetzte: Seine Unfähigkeit, eine völlig
unangemessene Bitte abzuschlagen, oder die Befürchtung, sich damit in Teufels
Küche zu bringen.
Er ertappte sich,
wie er seine Tasche fester hielt als sonst, in dem Gefühl, etwas Verbotenes an
seiner Haushälterin vorbei zu schmuggeln. Obwohl Frau Wagner noch niemals das
geringste Interesse an seinen Papieren gezeigt hatte, konnte er erst wieder
frei atmen, nachdem er das Buch in einer Schublade seines Schreibtisches
deponiert hatte.
Wie immer ging Frau Wagner zeitig zu Bett. Vincente zog sich mit einem großen
Cognac in sein Büro zurück und gab vor, an einer Predigt zu arbeiten. Er fühlte
sich wie ein Voyeur, als er Erikas Tagebuch hervorholte und den Einband
betrachtete. Das ergab alles keinen Sinn!
Erika war nicht der Typ, der sich die Haare schwarz färbte, sich die Lippe
piercen ließ und in schwarzen Klamotten herumlief. Sie war so fröhlich, nicht
die Spur depressiv. Selbst wenn sie einen kleinen Vampirtick haben sollte, war
es gewiss ganz harmlos.
Vincente seufzte resigniert, öffnete das Buch und machte sich auf einen Sumpf
krauser pubertärer Fantastereien gefasst.
Die alte Standuhr
in der Ecke seines Arbeitszimmers schlug drei Uhr, als Vincente das Tagebuch
schloss. Er hatte es bis zum Ende gelesen, ohne aufhören zu können. Was
keinesfalls an Erikas fesselndem Stil lag. Oft verlegte sie sich auf
Stichworte, wahllos hingeworfene Sätze.
Das Erstaunliche - nein Erschreckende - an ihren Aufzeichnungen war die
Verquickung alltäglicher Kleinigkeiten mit den wildesten Fantasien.
So beschrieb Erika zum Beispiel einige eher belanglose Ereignisse des
Schulfestes. Oder die Vorbereitungen für eine Tombola der Jugendgruppe.
Vincente hatte mit diesen Veranstaltungen ebenfalls zu tun gehabt und wusste,
dass Erika sich hierbei strikt an die Tatsachen hielt. Hannah hatte ihm
versichert, dass es sich mit den häuslichen Gegebenheiten der Schwestern ebenso
verhielt. Erikas Tagebuch war ein langweiliger, nicht besonders
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