Lebenselixier
wie im Schnelldurchlauf. Eine junge Frau blinzelte
ungläubig, bevor sie den Eindruck zur Seite schob und sich wieder ihrem iPhone
zuwandte. Ein älterer Mann, der seinen Terrier spazieren führte, wandte
irritiert den Blick ab. Er befürchtete senil zu werden und verdrängte die
Erinnerung.
Die Neigung der Sterblichen, Beobachtungen, die sie nicht verstanden, weg zu erklären,
oder gleich komplett zu ignorieren, kam seinesgleichen häufig zugute.
Rhen wurde bewusst, dass Lukas Gefährtin noch immer in seinen Armen hing und nach
Luft rang. Sie fühlte sich so kraftlos an, dass er nicht wagte, sie
loszulassen.
„Bist du okay?“
Das verwirrte Starren eines verängstigten Kaninchens antwortete ihm. Hastig
schob er sie in Lukas Richtung. Dabei bekämpfte er seinen Unwillen. Natürlich
hatte sein Auftritt im Kino ihm keine Sympathien eingebracht. Aber das war
lächerlich!
„Tony! Bist du in Ordnung?“ Noch immer schreckensbleich schlang sie die Arme um
Lukas Hals, holte zitternd Luft.
„Okay“, keuchte sie.
Lukas hörte, ebenso wie Rhen, ihren überhasteten Herzschlag und roch ihre
Angst.
„Danke, Mann.“ Lukas nickte Rhen zu.
Die Gefährtin versteifte sich, bevor sie sich zwang aufzusehen. „Ja“, brachte
sie hervor.
Rhen streckte ihr ihren Schlüsselbund entgegen. Nach einem kaum merklichen
Zögern pflückte sie ihn aus seiner Hand.
„Danke.“ Ihre Augen irrten ab. Ein neuer Schwall Angstgeruch stieg in seine
Nase.
Teufel, Frau! Ist dir denn nicht klar, was es bedeutet, die Gefährtin eines
Jägers zu sein? Ganz gleich, welche Meinung sie sich ihm gegenüber gebildet hatte, nur ein
riesen Idiot würde diesem Mäuschen einen scheelen Blick zuwerfen. Lukas würde
ihm den Kopf abreißen. Und sollte ihm das nicht gelingen, hätte Rhen in null
Komma nichts Jeremias gesamte Truppe auf dem Hals!
„Es geht mir gut.
Alles bestens“, versicherte Tony, um Fassung bemüht. Lukas Besorgnis brachte
sie in Verlegenheit. Zugleich spürte sie Rhens Augen in ihrem Rücken, den Zorn,
mit dem er sie fixierte.
Warum war er so wütend? Wenn es ihm so große Umstände gemacht hatte, warum
hatte er sie nicht einfach fallen lassen? Der Gedanke an das dunkle Wasser ließ
sie schaudern. Dennoch wünschte sie beinahe, er hätte es getan.
Lukas schob sie zur offen stehenden Eingangstür hinein, als fürchtete er, sie
könnte erneut umkippen.
„Kann ich dich allein lassen?“, fragte er.
„Du willst gehen?“
Er war doch grade erst gekommen! Nach fünf Tagen!
Äußerlich ließ Lukas sich nichts anmerken. Er hatte sich, wie immer, absolut im
Griff. Doch sie spürte den Durst, der an ihm nagte. Es war ihr Schmerz, genauso
wie seiner.
Das ist nicht fair!
„Ich muss Rhen zum Bunker bringen. Arne erwartet uns bereits.“
Sein Entschluss stand also fest. Er wollte nur ihre Absolution dafür. Sollte
sie aus der Rolle fallen? Ihm eine Szene machen? Ihn anflehen zu bleiben? Vor
den Augen von Rhen O´Tool, der sie mit eisigem Blick taxierte?
„Es geht mir gut.“ Dass ihre Stimme bebte, ließ sich nicht vermeiden. „Wann
kommst du wieder?“ Sie musste wenigstens fragen. Sollte dieser Verbrecher doch denken,
was er wollte.
„Ich weiß noch nicht.“ Lukas küsste sie. Auf die Stirn. Dann schob er sie von
sich. Als hätte er Angst, sich nicht losreißen zu können, wenn er sie noch eine
Sekunde länger im Arm hielt.
Er überquerte den Steg und sah nicht zurück. Rhen war es, der sich noch einmal
umwandte. Hastig zog sie die Tür ins Schloss.
Tony ließ ihre
Tasche fallen und eilte die schmale Wendeltreppe zum Schlafzimmer hinunter.
Dort warf sie sich auf das breite Bett.
Samantha hatte ihr vor einer knappen Stunde noch versichert, dass sie sie
jederzeit anrufen sollte. Wann immer sie sich schlecht fühlte, sollte sie keine
Hemmungen haben, zum Telefon zu greifen.
Aber Tony wollte nicht mit Samantha reden. Sie wollte mit niemandem reden.
Wütend schlug sie auf eines der bauschigen Kissen ein. In Filmen, dachte sie
wirr, wäre das eine Gelegenheit, Daunenfedern durch die Luft segeln zu lassen.
Aber das Kissen hielt ihren schwachen Fäusten stand. Nicht mal dieses verdammte
Kissen ließ sich von ihr beeindrucken. Tränen verschleierten Tonys Blick.
Schließlich sank sie erschöpft in die kühlen Laken. Noch immer brannte Zorn in
ihrer Kehle, während sie im Schein eines Nachtlichts zur Decke starrte. Ihr
blieb nichts, als den Schmerz zu erdulden, den die wachsende Entfernung zu
Lukas hervorrief.
Rhen lümmelte in
dem engen Verhörraum auf
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