Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
grandios gescheitert. Doch diesmal musste es klappen, die Blamage war schon so groß genug, und der einzige Weg, Gökhan und seine mental spröden Freunde sprachlos zu machen, war, diesen verdammten Fahnenmast zu erklimmen. Mit aller Kraft zog ich mich unter bestialischem Keuchen am Fahnenmast hoch, mein Turnbeutel fing an zu verschwimmen, nur sehr langsam wanderte Kermit auf mich zu. Armmuskeln anspannen, Beine um den Fahnenmast klemmen, ziehen. Und noch mal! Mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften zog ich mich am Fahnenmast hoch. Kermit verharrte in seiner nicht enden wollenden Kniebeuge und machte den Anschein, als würde er mich mit seinen spindeldürren Ärmchen anfeuern und »Quak, quak, Basti Phantasti« rufen … anscheinend bekam mein Hirn nicht mehr genug Sauerstoff. Nur noch wenige Zentimeter, ich streckte prustend meinen Arm aus, gleich würde ich nach dem Turnbeutel greifen können.
Doch dann knackste der Fahnenmast verräterisch, massiver Stahl, der konnte selbst unter meinem Gewicht nicht einknicken, dachte ich. Und ich hatte recht, denn es war nicht der Fahnenmast, der so geknackst hatte. Es war meine Hose, sie hatte aufgegeben, noch bevor ich es konnte, und sogleich glitt ich, während mir mein Arsch wie ein fleischfarbener Ballon vorauseilte, mit einem Quietschen zu Boden.
»Ey, Bielendorfer, mach uns das Sparschwein«, brüllte mir Gökhan Mutlu zu, während ich nach den Überresten meiner Hose und meiner Würde tastete und versuchte, nicht auf den Boden zu knallen.
Als ich unten ankam, sah ich, dass Patrick Bergmann dort auf mich wartete. Patrick hatte die Schule gewechselt und war erst vor einer Woche in unsere Klasse gekommen. Er hatte bisher mit niemandem gesprochen, schaute meist recht unbeteiligt, und wir alle waren neidisch auf den Bartschatten, der das Grübchen an seinem Kinn umwucherte, das wie eine verblasste Narbe aussah. Er trug die ganze Zeit eine Mütze, die er selbst nach Aufforderung unseres Klassenlehrers nicht absetzte, was ihm schon mehrere Ermahnungen eingebracht hatte, die er mit einem Schulterzucken hinnahm.
Was konnte er wollen, vielleicht ein Fünfmarkstück einwerfen oder mir den Rest meiner Hose vom Körper reißen? Als ich mich endlich aufrappelte und spürte, wie ein kalter Wind durch das Loch in meiner Hose pfiff, schaute mich Patrick ausdruckslos an. Dann nickte er, trat gegen den Fahnenmast, woraufhin eine kleine Klappe in Kniehöhe aufsprang. Er bückte sich, fummelte den Seilzug heraus und zog an der Schnur, die sich im Inneren des Fahnenmasts nach oben bewegte. Langsam glitt mein Sportzeug herab und landete direkt in meinen Armen.
»Danke«, stotterte ich und schaute auf meinen Turnbeutel. Mir blieb noch eine Minute bis zum Sportunterricht. Patrick nickte nur müde, in sein Gesicht hatte sich eine Gelassenheit gebrannt, die mir schon fast unheimlich war.
Dann löste sich Gökhan aus seiner Gruppe und ging auf uns zu. Er schien nicht gerade zufrieden damit zu sein, dass ich meinen Turnbeutel wieder in den Händen hielt.
»Ey, du Spacko, was soll das ...«, brüllte er Patrick an und baute sich vor ihm auf.
Klatsch, da lag Gökhan schon auf dem kalten Zement, Patrick hatte seine Faust wie eine Gewehrkugel durch die Luft schnellen lassen, Gökhan direkt auf die Nase getroffen und ihn glatt von den Füßen katapultiert.
»Lass ihn in Ruhe, klar?«, fragte Patrick rhetorisch, und Gökhan nickte.
Ich stand wortlos da, während sich Patrick stumm umdrehte und Richtung Sporthalle ging. Ich ging in seinem Windschatten und spürte, dass heute etwas Besonderes geschehen war.
Ich hatte einen Freund und Gökhan Mutlu einen Feind gewonnen.
Die Transformation
»Spring doch, Schwuli, spring!«, brüllte Gökhan, während mir die Knie schlotterten.
Patricks Knock-out am Fahnenmast hatte Gökhan leider nur vorübergehend ausgeschaltet, denn schon am nächsten Morgen war er noch bösartiger zurückgekehrt – mein Jüngster Tag machte anscheinend Überstunden. Gökhans Rache für die gestrige Aktion entlud sich nun, gut abgehangen, mit zweifacher Kraft. Schon als ich morgens den ersten Schritt auf den Schulhof setzte, begleitete mich ein lang gezogenes »Schwuuuuuli« wie der Balzgesang eines homophoben Papageis.
Gökhan hatte mein Verhältnis zu Patrick kreativ uminterpretiert – in seiner von eigenartigen Gesten der Maskulinität durchsetzten Welt war »schwul« wohl die schlimmste Beleidigung – gleich nach »schlau«. Allerdings war davon auszugehen,
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