Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
dass Gökhan von »schwul« eine ähnlich verschwommene Vorstellung hatte wie der Rest von uns geistig und körperlich unfertigen Teenagern, die eigentlich schon beim Gedanken an Sex rot anliefen.
Während ich sonst versuchte, Gökhans gut gemeinte Ratschläge zu ignorieren, die mir entgegenschallten, sobald ich dem Lehrer-Passat meines Vaters entstieg, war mir das nach dem gestrigen Vorfall heute irgendwie nicht gelungen. Doch das Resultat meines irrtümlich erstarkten Selbstvertrauens ließ mich sofort an der Richtigkeit dieses Zwergenaufstands zweifeln.
Denn was hatte ich mir nur jetzt schon wieder eingebrockt? Mit schlotternden Knien stand ich auf dem Dach eines Transformatorhäuschens, der Herbstwind zerrte an meiner Hose, meine Schuhspitzen waren wie festzementiert an der grauen Betonkante, ein Schritt weiter, und ich landete im blanken Nichts.
»Spring schon, Homo!«, skandierte Gökhan abermals und klatschte Beifall heischend in die Hände, um seine Freunde zum Mitmobben zu animieren. Die städtische Tristesse Gelsenkirchens bot dem Auge kaum Futter, um von meiner misslichen Lage hoch oben auf einem Transformatorhäuschen abzulenken. Die grauen Fassaden der Nachkriegsarchitektur waren im besten Fall zweckmäßig, hier wuchsen in der Regel keine Schöngeister auf. Auch unser Schulhof war nicht gerade das Abbild eines reformpädagogischen Selbsterfahrungsortes, er erinnerte mehr an den Freiganghof eines Gefängnisses. Neben dem grünen Maschendrahtzaun, der die lokalen Junkies vor uns Schülern schützen sollte, stand ein defektes Klettergerüst – und besagtes Transformatorhäuschen, auf dem ich stand und zitterte.
Immer mehr Schüler versammelten sich um den sonst so uninteressanten Klotz, an dessen Seite ein großes Schild mit »Achtung, Lebensgefahr« wenig einladend darauf hinwies, was für eine Schnapsidee es war, dort hinaufzuklettern. Und alles nur wegen einer pastellfarbenen Angoramütze, die meiner großen Liebe Hanna Sommer gehörte.
Gökhan und sein Gefolge waren vor meinem morgendlichen Erscheinen auf dem Schulhof etwas unterbeschäftigt gewesen und hatten sich zu den Mädchen an die Tischtennisplatte gesellt. Da die Mädchen ihnen aber weniger Beachtung schenkten als ihren French-Nails, schnappte sich Gökhan frustriert Hannas Angoramütze und pfefferte sie auf den nächstbesten Baum.
»Schwuuuli, komm schon, hol dir den Lappen«, rief er mir zu und nahm Kurs auf eine alte Linde am Rande des Schulhofs, auf die er das Wollungetüm schließlich hochschleuderte.
Es war naiv zu glauben, dass mit Patricks Auftauchen mein Martyrium in der Schule enden würde, ich musste schon selbst dafür sorgen, mir Respekt zu verschaffen. Die Gelegenheit bot ausgerechnet Gökhan, ich hatte den Schulhof nicht mal zur Hälfte überquert, da stellte er sich mir in den Weg, wie ein haariges Monument der Feindschaft.
»Na, Mädchen, wo ist deine Freundin jetzt?«, spuckte er spöttisch, Patrick war nicht da, sein Bewusstsein für den Begriff »Schulpflicht« schien nur gering ausgeprägt zu sein.
»Wetten, dass du da nicht raufkletterst?«, sagte Gökhan und zeigte auf das unspektakulär wirkende Transformatorhäuschen.
Genau, dachte ich, ich klettere da jetzt hoch und hechte dann in drei Meter Höhe zu dem Baum rüber. Das wäre ja total bescheuert. Nur um so einen haarigen Hanswurst zu beeindrucken. Doch dann dachte ich an Hanna Sommer, das schönste Mädchen unserer Schule. Hanna hatte eine Anmut, die andere Mädchen hilflos zu kopieren versuchten, jede ihrer Bewegungen war seiden. Auch wenn ich vor Kurzem noch über alle Maßen in Ashley verliebt gewesen war, hatte sich schon wieder genug hormonelle Verwirrung aufgestaut, um für Hanna zu schwärmen.
Das Transformatorhäuschen befand sich direkt neben dem Baum und war vielleicht drei Meter hoch, eine Zahl, die sich in der subjektiven Wahrnehmung vervielfachte, als ich schließlich doch die Sprossen der Notleiter an der Rückseite hochkletterte. Jetzt stand ich in der kühlen Herbstsonne, der Schulhof miniaturisierte sich, ich konnte die gestreckten Hälse meiner Klassenkameraden sehen, die zu mir heraufschauten. Selbst in der gegenüberliegenden Fensterwand unseres Schulgebäudes konnte ich immer zahlreicher werdende Gesichter erkennen. Die Schulhofaufsicht war nirgendwo zu finden, wahrscheinlich suchte Herr Löser irgendwo nach den Überresten seines Engagements.
Um an die Mütze zu kommen, musste ich einen scheinbar unüberwindbaren Abgrund
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