Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
Abschluss des Satzes die Hand vor den Mund. Blödmann. Ich sabberte ein zweites »Näää« in seine Richtung, das diesmal aber auch so gemeint war. Die Lüge vom Heimkind hatte ja lange gehalten. Die Augenbraue des Arztes schnellte das zweite Mal an diesem Tag in die Höhe.
Zwanzig Minuten später standen meine Eltern in der Tür des Behandlungsraums und veranstalteten einen Wettstreit im »Bösedreinblicken«. Meine Mutter führte eindeutig, ihre Augenbrauen stießen vor Wut auf ihrer Stirn zusammen, in ihren Augen sammelten sich Tränen, jede einzelne ein stummer Vorwurf an mich. Mein Vater versuchte es ihr gleichzutun, allerdings mischte sich bei ihm noch ein wenig das schlechte Gewissen mit ein, da er mir das lange Rilke-Gedicht für meinen Liebesbrief gegeben hatte. Wäre es nur ein netter Zweizeiler oder ein Haiku gewesen, wäre ich wahrscheinlich nicht auf meinem Schreibtisch zusammengesackt.
Auf der Heimfahrt schwiegen meine Eltern wieder um die Wette, meine Mutter führte erneut, mein Vater gab beim Beschleunigen wenigstens noch ein Grummeln von sich, selbst Patrick neben mir schaute betreten auf meinen verbundenen Arm. Als wir ihn vor seiner Haustür absetzten, wollte er wohl noch etwas Aufmunterndes sagen, doch bevor er seine Hand zum Winken heben konnte, gab mein Vater Vollgas und schoss die ereignislose Nebenstraße entlang. Ich sah Patrick durch das Rückfenster kleiner werden. Unsere Freundschaft würde nicht leicht werden in Zukunft, dachte ich, als der Wagen um die Kurve bog und Patrick aus meinem Blickfeld verschwand.
Familienkonferenz
Als wir zu Hause ankamen, beamte mich der Blick meiner Eltern wie ein Traktorstrahl in mein Zimmer. Geräuschvoll schloss ich die Tür hinter mir, von der mich jetzt Bruce Willis vom »Stirb langsam«-Plakat vorwurfsvoll anschaute. Immer noch lieber Bruce Willis als meine Mutter, dachte ich. Meine Eltern hielten gerade Familienkonferenz ab. Ohne mich. Familienkonferenz bestand daraus, dass sie sich an unseren Esstisch setzten, meine Mutter ihr Gesicht in den Handflächen vergrub, heulte und mein Vater dazu grunzte. Ein relativ komplizierter Entscheidungsfindungsprozess, an dessen Ende meist mein Vater in mein Zimmer gestürmt kam, ungeschickt die Playstation vom Fernseher schraubte und den Raum verließ. Hausarrest war kein sonderlich probates Mittel bei einem unbeliebten Teenager, ich hatte mich ja selbst schon zu lebenslangem Hausarrest verurteilt, schlimmer wäre gewesen, sie hätten mich ins Freibad gezwungen.
Ich schraubte schon mal die Playstation ab, dann riss mein Vater wenigstens nicht wieder den kompletten Fernseher vom Tisch, weil er ein Kabel übersehen hatte. Termingerecht sprang die Tür keine zwei Minuten später auf, mein Vater stolperte herein, die pure Empörung über meine Dummheit, eine Zornesfalte grub sich wie der Grand Canyon in seine Stirn. Ich stand schon hinter der Tür und überreichte feierlich mein Multimediawerkzeug, mein Vater rang sich kaum ein Nicken ab.
»Mit dem Kerl triffst du dich nicht mehr!«, war das Urteil, das er und meine Mutter in wenigen Minuten des gemeinsamen Grunzens und Heulens gefunden hatten. Ich wollte noch einen Widerspruch formulieren, doch bevor sich mein Mund öffnete, war die Anwesenheit meines Vaters schon wieder verstrichen. Dort, wo zuvor sein Körper die klamme Stille meines Jugendzimmers mit Gegenwart erfüllt hatte, ließ jetzt nur noch ein Sonnenstrahl die Milben mit meinem Hausstaub tanzen.
Ring frei für den Samurai
Immerhin drei Tage Einzelhaft hatte ich mir mit dem Käsemesser aus dem unaufhörlichen Lauf der Zeit geschnitten, in der Schule ging nach der Radikalrasur meiner Familie im letzten Jahr wahrscheinlich schon wieder das Gerücht rum, die Läuse wären zurückgekehrt. In der Zwischenzeit schrieb ich mir Phantasienamen auf meinen Verband, Signaturen von Phantomfreunden, ich wünschte mir selbst im Namen anderer »Gute Besserung«, sogar ein Herz mit zwei kryptischen Initialen fanden auf meinem bandagierten Unterarm Platz.
Irgendwann waren die drei Tage Krankschreibung aber verstrichen, der Passat meines Vaters hatte mich wieder, quietschend bogen wir auf den Lehrerparkplatz ein. Mein Vater hatte die letzten drei Tage seinen Unmut durch lautes Schweigen kundgetan, nun reichte er mir mit zusammengekniffenen Augen den Ranzen.
Als ich unseren senfgelben Klassenraum betrat, verstummte plötzlich das übliche Chaos, das vor den Unterrichtsstunden pflichtbewusst von allen Schülern
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