Lebenslang Ist Nicht Genug
damit zu betrinken. Wahrscheinlich würde ihr davon bloß schlecht werden. Für Rauschgift hatte sie sich nie sonderlich interessiert. Auf dem College hatte sie einmal Hasch geraucht und später noch ein zweites Mal zusammen mit Mark. Danach war sie sicher, daß sie sich nichts daraus mache. Sie war lieber Herr der Lage, als die Kontrolle über sich zu verlieren. Kontrolle, dachte sie und starrte den Jungen an, was für ein Witz.
»Weshalb wollten Sie mich sprechen?« fragte er. Es klang fast liebenswürdig.
»Ich...« Gail sah verlegen zu Boden. Was sollte sie jetzt bloß sagen?
»Irene erzählte mir, Sie hätten nach mir gefragt. Ich war’ne Weile untergetaucht, hatte nämlich Zoff hier in der Gegend. Wie ich nun zurückkomme, sagt Irene zu mir, daß im ersten Stock’ne Mieze wohnt, die nach mir sucht. Sogar meinen Namen haben Sie gewußt.«
»Ich dachte, Sie seien jemand, den ich kenne.« Gail war erstaunt darüber, wie klar und fest ihre Stimme klang.
»Ach wirklich?« fragte er neugierig. »Was dagegen, wenn ich mich setze?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, ließ er sich mit dem Rücken zur Wand aufs Bett fallen und streckte die Beine aus. Fast genauso hatte Gail vorhin dagesessen, bis er an ihre Tür klopfte.
»Ich hab’ Sie mal nachmittags auf der Straße gesehen. Sie kamen mir bekannt vor. Ich dachte, Sie seien der Sohn eines Freundes, der spurlos verschwunden war.« Die Lüge klang nicht sehr
überzeugend. »Da bin ich Ihnen nachgegangen und hab’ die Hauswirtin nach Ihnen gefragt. Aber sie hat behauptet, sie kenne Sie nicht.«
»Heißt der Sohn Ihres Freundes etwa Nick Rogers?« fragte er mit wohldosierter Ironie in der Stimme.
»Nein«, antwortete Gail rasch. »Natürlich nicht. Ich hab’ zufällig gehört, wie Irene den Namen erwähnte, als von Ihnen die Rede war. Ich schloß daraus, daß Sie ihr einen falschen Namen angegeben hätten.«
»Und dann sind Sie hier eingezogen und haben darauf gewartet, daß ich wieder aufkreuze?« Gail nickte zögernd. »Ist das nicht’n bißchen viel für’n Freundschaftsdienst?« Er beugte sich vor, zog die Knie an und stützte die Arme darauf. Gail schwieg. Was auch immer sie jetzt sagte, würde der Junge ohnehin als Lüge durchschauen. »Es sei denn, man hat Sie für Ihre Schnüffelei bezahlt.«
»Bezahlt?«
»Als Privatdetektiv oder so was. Wie in >Drei Engel für Charlie<.« Er machte eine Pause. »Oder sind Sie von der Polizei?« Er zog ein letztes Mal an seinem Joint, warf ihn auf den Boden und nahm automatisch einen Fuß vom Bett, um die Kippe auszutreten.
»Ich bin weder von der Polizei noch arbeite ich für ein Detektivbüro«, sagte Gail.
»Aber Sie haben mir die Bullen auf den Hals geschickt, nicht?«« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Er sah das Erstaunen in ihren Augen und stand vom Bett auf. »Sie müssen es gewesen sein. Sie haben die Bullen auf mich gehetzt.« Gail wich zur Tür zurück, aber der Junge kam unaufhaltsam näher. »Wer, zum Teufel, sind Sie, Lady? Was wollen Sie von mir?« Voll Verwunderung starrte Gail den Jungen an. Dann hatte die Polizei ihren Anruf also doch ernst genommen. Man hatte jemanden hergeschickt, um ihn zu verhören. Und dann hatten sie ihn laufenlassen. Warum?
»Ich bin ihre Mutter«, sagte sie leise.
»Ihre Mutter?« fragte er. »Was soll das heißen? Mutter? Wovon reden Sie eigentlich? Ich warne Sie, wenn Sie nicht bald mit der Sprache rausrücken, dann...««
»Cindy Waltons Mutter«, sagte Gail langsam. »Das kleine Mädchen, das Sie vergewaltigt und umgebracht haben.«
Nick Rogers verzog das Gesicht zu einem breiten, freundlichen Grinsen. Er schwieg ein paar Sekunden. »Das kleine Mädchen, das ich vergewaltigt und umgebracht habe«, wiederholte er schließlich. »Da müssen Sie mir schon’n bißchen auf die Sprünge helfen. Es waren so viele...«
»Es war im letzten April.« Gail sprach ruhig, empfindungslos. »In Livingston. In einem kleinen Park nicht weit von der Riker-Hill-Schule. Sie war sechs Jahre alt. Ich bin ihre Mutter.«
»Das ist ja interessant.« Nick Rogers wiegte den Kopf hin und her. »Jetzt begreife ich endlich, was all diese Fragen zu bedeuten hatten, die sie mir auf dem Polizeirevier gestellt haben.« Er hielt inne. »Erzählen Sie weiter.«
»Ich weiß nicht, was Sie noch hören wollen.«
»Einzelheiten. Ich will Einzelheiten.«
»Sie kennen die Details.«
»Dann frischen Sie mein Gedächtnis auf.«
Gail blickte ihm in die Augen. »Meine Tochter war auf dem
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