Lebenslang
die Schuhe anziehen.
»Tun Sie das nicht.«
»Was soll ich nicht tun?«
»Gehen Sie nicht hinaus. Die Presse hat Wind von der Sache bekommen und ist bereits da. Wenn Sie nicht mit denen sprechen wollen, würde ich Ihnen dringend raten, das Haus nicht zu verlassen.«
Ich höre nicht auf sie, sondern binde meine Schuhe zu. Hier herumsitzen und einfach nur abwarten, das kann ich nicht. Ich muss raus. Selbst etwas tun. Ich öffne die Haustür und sehe, dass die Einfahrt der Stichstraße erneut abgesperrt worden ist. Ein gutes Dutzend Männer und Frauen, bewaffnet mit Kameras, richtet auf einmal die Objektive auf mich, Auslöser werden gedrückt, vereinzelt flammen Blitzlichter auf, die mich erstarren lassen.
Die Polizistin greift mich vorsichtig am Arm. »Kommen Sie rein. Tun Sie sich den Gefallen.«
Ich mache einige Schritte rückwärts, stolpere dabei beinahe über eine abgeflachte Bordsteinkante und rudere mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das Klicken der Auslöser wird hektischer. Ich drehe mich um und laufe wieder ins Haus.
»Was zum Teufel machen die da?«
»Ihre Arbeit«, sagt die Polizistin und versucht mich mit einem Lächeln zu trösten.
»Können Sie dafür sorgen, dass sie verschwinden?«
Die Polizeikommissarin schüttelt den Kopf. »Das wird nicht gehen.«
Ich werfe die schwere Haustür zu. Es gibt einen lauten Schlag, der den Spiegel im Flur klirrend erzittern lässt. Ich fühle mich ohnmächtig, gefangen in meinem Haus, zur Untätigkeit verurteilt.
»In einer halben Stunde wird jemand kommen, der sich um Sie kümmert«, sagt die Polizistin. Ich runzele die Stirn, denn im ersten Moment weiß ich nicht, wovon sie spricht, aber dann fällt es mir ein. Der Seelsorger, über den wir gestern gesprochen haben. Ich rolle innerlich mit den Augen.
»Außerdem warte ich noch auf einige Kollegen von der Spurensicherung«, fährt sie fort. »Wegen der Vergleichsproben.«
»Was für Vergleichsproben?«
»Falls wir Spuren finden, müssen wir die Möglichkeit haben, sie abgleichen zu können.«
»Was ist mit Ihnen? Bleiben Sie nicht hier?«
Die Polizistin schüttelt erneut den Kopf. »Ich bin dem Suchtrupp zugeteilt worden. Wie gesagt, ich warte mit Ihnen noch auf jemanden, der sich um Sie kümmern wird.«
Wieland kommt die Treppe herunter. Sein Haar steht wirr nach allen Seiten hin ab. Sein T-Shirt vom Vortag ist zerknautscht und ausgeleiert. »Tut mir leid«, murmelt er. »Aber ich glaube, ich habe verschlafen.«
»Du hast nicht verschlafen«, erwidere ich. »Das hier ist nichts, wozu man pünktlich erscheinen muss.«
Ich spüre, wie ich aggressiv werde. Am liebsten würde ich alle rausschmeißen, alleine sein, die Dinge selbst in die Hand nehmen. Es klingelt wieder an der Haustür. Ich vermute, dass es der Seelsorger ist, bin aber überrascht, auf einmal meine Eltern zu sehen. Ich muss meine Mutter in die Arme nehmen, die bei meinem Anblick hemmungslos zu weinen beginnt.
»Wir sind die ganze Nacht hindurch gefahren«, sagt mein Vater. Er ist blass, die Augen sind gerötet. Er weiß nicht, was er mit seinen Händen machen soll, so hilflos gestikuliert er herum. »Gibt es etwas Neues?«
»Nein.«
»Wo ist Astrid?«, fragt meine Mutter, die sich mit einem zusammengeknüllten Tempotaschentuch Nase und Augen abwischt.
»Oben im Schlafzimmer«, sage ich. »Ich glaube, sie möchte niemanden sehen.«
Meine Mutter ist eine klein gewachsene Frau mit altmodischer Dauerwelle. Sie trägt eine hellblaue Stretchhose und weiße Gesundheitsschuhe, die statt Schnürsenkeln einen Klettverschluss haben. Mein Vater ist ein Mann im Rentenalter, der zeit seines Lebens mit seinem Gewicht zu kämpfen hatte. Sein Herz ist schwer angeschlagen, drei Bypassoperationen hat er schon über sich ergehen lassen müssen. Sie lieben Julia abgöttisch, denn sie ist ihr einziges Enkelkind. Es war geplant, dass sie die zweite Hälfte der Sommerferien bei ihnen verbringt.
Und wieder klingelt es. Diesmal sind es die Männer und Frauen der Spurensicherung, bekleidet in weißen Einmalanzügen. Ich begleite sie hinauf in Julias Zimmer, damit sie ihrer Arbeit nachgehen können. Die Schlafzimmertür ist noch immer verschlossen. Ich klopfe an und drücke die Klinke herunter. Astrid hat den Schlüssel von innen umgedreht. »Meine Eltern sind gekommen«, sage ich. Keine Antwort, also gehe ich wieder.
Wieland sitzt am Frühstückstisch. Er isst nicht viel, trinkt dafür aber umso mehr Kaffee. Meine Eltern stehen im
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