Lebenslang
ist die einzige Frage, die mich interessiert.
Julia zuckt erneut mit den Schultern und blinzelt in die Sonne, die auf einmal hoch am Himmel steht. »Es wird heiß heute. Ich muss weiter.« Und sie geht.
Ich weine jetzt wie noch nie in meinem Leben. Meine Seele ist eine einzige offene Wunde, die blutet, blutet, blutet. Ich sitze unter dem Baum und kann nicht aufstehen. Ich rufe ihren Namen. Julia. Ich schreie ihn, bis meine Stimme nur noch ein Kreischen ist.
Julia dreht sich nicht um. Als sie hinter der Kuppe des Hügels verschwindet, erwache ich.
Es dauert fünf, sechs Herzschläge, bis ich weiß, wo ich bin. Es ist warm im Schatten und heiß in der Sonne. Ich wische mir mit dem Handrücken über das Gesicht und sehe die Tränen. Dann blicke ich auf meine Uhr. Es ist kurz vor halb drei. Fluchend kämpfe ich mich auf die Füße. Ich habe mehr als acht Stunden geschlafen! Mit wackeligen Beinen setze ich mich auf mein Fahrrad und lasse mich den Hügel hinabrollen, hinter dem Julia in meinem Traum verschwunden ist.
Eine Stunde später biege ich in unsere Straße ein. Mehr Menschen als sonst haben sich versammelt. Die Presse ist wieder da. Die Polizei hat jeden freien Parkplatz zugestellt. Irgendetwas liegt in der Luft. Als mich jemand sieht und ruft und mit dem Finger auf mich zeigt, richten sich alle Blicke und Kameras auf mich. Schumacher kommt auf mich zugerannt, damit er vor den anderen bei mir ist.
»Wo haben Sie gesteckt?«, fragt er mich atemlos. Schweißperlen glitzern auf seiner breiten Stirn, sein Kopf ist hochrot, als würde sein Herz schneller schlagen, als ihm guttut. »Wir haben überall nach Ihnen gesucht.«
»Ich habe Suchplakate aufgehängt«, sage ich und sehe in die Gesichter der Leute, die keine zwanzig Meter entfernt von mir herüberstarren. Mein Herz setzt für einen langen, sehr langen Moment aus. Das Blut weicht aus meinem Gesicht.
»Sie haben sie gefunden?«, frage ich atemlos.
Ich muss nur in Schumachers Augen schauen, und ich weiß die Antwort, bevor er sie mir gibt.
»Sie ist tot«, stelle ich fest. Ich lasse mein Fahrrad los, und es fällt auf die Straße. Das Glas der Lampe zerbricht.
»Ja«, sagt Schumacher.
»Wo?«
»Am Grünen See«, sagt er.
Mein Körper fühlt sich taub an, als wären meine Nerven erfroren. Ich stehe in der Mitte der Straße, und alle sehen zu mir herüber. Die Nachbarn, die Freunde, die Polizisten. Die Journalisten, die immer und immer wieder auf die Auslöser ihrer Kameras drücken. Ich spüre nicht den Boden unter meinen Füßen, als ich zum Haus gehe. Die Menschen machen eine Gasse für mich frei.
Ich zwinge mich dazu, nicht in Tränen auszubrechen. Nicht hier. Nicht vor den anderen.
Schumacher schließt die Haustür hinter mir. Meine Eltern sind da, Wieland, Oliver. Als Astrid mich sieht, springt sie von ihrem Stuhl auf, fällt mir um den Hals und weint. Ich drücke sie. Zum ersten Mal geben wir einander Halt. Alle haben Tränen in den Augen.
Mein Vater sitzt auf der Couch. Jede Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen. Er sieht aus, als müsste er seine verbliebene Kraft aufs Atmen konzentrieren.
Wieland ist so verstört, dass er das Glas, aus dem er getrunken hat, immer wieder in seinen Händen dreht. Die Zeit ist in diesem Moment zu einem Block aus Eis gefroren. Alles ist still, als wäre ich alleine in diesem Raum. Nur die Flugzeuge, die verdammten Flugzeuge, fliegen dröhnend über unser Haus hinweg.
»Kann ich sie sehen?«, frage ich mit einer Stimme, die so leise ist, dass ich sie selbst kaum höre.
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, sagt Schumacher, der genauso mitgenommen ist wie wir alle. »Sie ist in einem Zustand …« Weiter kommt er nicht, denn auch ihm versagt die Stimme.
»Bitte«, flehe ich. »Bitte bringen Sie mich zu ihr.«
Schumacher holt tief Luft und nickt schließlich. »Okay. Ich werde fragen, wann …«
»Jetzt«, sage ich. »Ich möchte Sie jetzt sehen.«
»Steilberg, bitte. Das wird nicht gehen.«
»Dann machen Sie es möglich«, schreie ich ihn an. »Ansonsten erzähle ich draußen der versammelten Presse, dass Sie mich daran hindern wollen, von meiner Tochter Abschied zu nehmen!«
Schumacher zuckt tatsächlich zusammen. Schließlich nickt er knapp und verlässt das Haus.
Ich halte Astrid noch immer im Arm. »Kommst du mit«, flüstere ich in ihr Ohr. Ich spüre, wie sie den Kopf schüttelt.
»Okay«, sage ich nur und streichele ihr übers Haar. »Okay.«
Wir fahren mit einem neutralen
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