Lebenslang
Hotel einquartiert, nicht weit von unserem Haus entfernt. Auch diesen Bertram, der uns eigentlich zur Seite stehen sollte, hat sie rausgeschmissen, nachdem er den ganzen Tag versucht hat, mit uns ins Gespräch zu kommen.
Eigentlich hat Astrid alle vergrault, so als wolle sie mit sich und ihrem Schmerz allein sein.
Ich hingegen muss reden, Worte für all das Unaussprechliche finden, das ich empfinde. Meine Tochter ist da draußen, allein, voller Angst. Und mit ihr ein Teil von mir.
Ich stehe auf und hätte am liebsten laut geschrien, denn ich erkenne meine Frau nicht mehr wieder. Wir befinden uns im selben Haus, im selben Raum, und trotzdem fühle ich mich allein wie noch nie in meinem Leben. Doch ich bin zu erschöpft. Ich will nicht mehr streiten. Ich will endlich wieder meine Tochter in den Armen halten.
Ich gehe hinauf in mein Atelier, schalte den Rechner ein und erstelle ein neues Suchplakat, drucke es hundertmal aus, nehme eine Rolle Klebeband und verlasse das Haus. Es ist früher Morgen.
Die Journalisten haben sich verzogen. Nur das Polizeiauto steht noch am Straßenrand. Ich schwinge mich auf mein Fahrrad und beginne, die Zettel an Laternenpfähle, Stromkästen und Plakatwände zu kleben. Ich begegne keinem Menschen. Die Straßen sind wie ausgestorben. In der Ferne rauscht die Autobahn. Es klingt, als hätte die Nacht einen Tinnitus.
Ich fahre nach Mühlheim, Dietesheim und in alle angrenzenden Orte. Bald sind die Zettel aufgebraucht. Ich ärgere mich, dass ich nicht noch mehr ausgedruckt habe. Also radele ich zurück nach Hause und spüre einen stechenden Schmerz in meiner Brust.
Nach Hause.
Eigentlich will ich nirgendwo sein.
Ich halte an einer Tankstelle, die zu dieser frühen Stunde schon geöffnet hat, und kaufe die neuesten Tageszeitungen. Von den überregionalen Blättern hat keines etwas über das Verschwinden meiner Tochter geschrieben. Alle anderen bringen die Meldung erst auf der zweiten Seite, wenn nicht sogar im Lokalteil. Da ist sie allerdings ein großes Thema. Ansonsten gibt es interessantere Dinge. Die WM verdrängt alles. Scheiß Fußball. Ich habe diese stumpfe Kickerei noch nie gemocht. Kinder verschwinden, Menschen werden getötet, die Welt wird von Katastrophen heimgesucht, aber wichtig ist nur, wie die deutsche Mannschaft gespielt hat.
Die Luft ist kühl und angenehm frisch so kurz vor Sonnenaufgang. Lastwagen dröhnen auf der B43 Richtung Autobahn.
Ich merke, dass ich nicht auf direktem Weg zurückfahre, sondern Umwege nehme, Orte aufsuche, die nichts mit Julia zu tun haben, um den Schmerz zu lindern, der mich innerlich versteinern lässt. Ich fahre über Feldwege und Landstraßen, durch Orte, die gerade erst erwachen, während ich immer müder werde. Bei einer Bank unter einer weit ausladenden Buche, die die Kreuzung zweier Feldwege markiert, steige ich ab. Es ist die Station eines Kreuzweges. Gott kümmert sich nicht um seine Geschöpfe. Was für eine Scheiße. Jeder Herr geht besser mit seinem Hund um. Ich lasse mein Fahrrad ins Gras fallen, setze mich unter die Buche und lehne mich an den Stamm. Der Wind rauscht in den Blättern. Die Sonne kriecht über den Horizont. Kein Mensch weit und breit. Zum ersten Mal seit Julias Verschwinden komme ich zur Ruhe. Die Augen fallen mir zu. Ich schlafe ein und träume.
Träume von Julia, die den Feldweg vom Wald herunterkommt. Sie trägt ein rotes T-Shirt, abgeschnittene Jeans, rote Turnschuhe. Der Kies knirscht unter ihren Sohlen. Sie verlangsamt ihren Schritt und bleibt schließlich stehen, als sie mich erblickt. Sie sieht aus, wie ich sie für den Rest meines Lebens in Erinnerung behalten werde. Doch ihr Gesicht ist anders. Ihre Augen blicken mich erwachsen an.
»Hallo, Papa«, sagt sie und runzelt die Stirn.
»Hallo, Schatz.«
Wir sehen einander schweigend an. »Wohin gehst du?«, frage ich schließlich.
Julia zuckt mit den Schultern und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht, die der Wind dorthin geweht hat.
»Wann kommst du nach Hause?«, will ich wissen. Ich spüre die raue Rinde in meinem Rücken und die Wurzeln, auf denen ich sitze. Das Korn steht hoch dieses Jahr.
Julia schaut mich an, als hätte ich noch nicht bemerkt, dass alle Chancen verspielt sind. »Ich glaube nicht, dass ich wiederkommen werde«, sagt sie. »Ich habe jetzt ein neues Leben. Eines ohne euch.«
Ich beginne zu weinen, schluchze hemmungslos und will meinen Arm ausstrecken, aber ich kann mich nicht bewegen. »Warum lässt du uns alleine?« Es
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