Lebenslang
ziehe ich mit höchster Akribie, lasse Farben ineinander verlaufen, Rot und Grün. Jedes Detail ist zu erkennen. Es fällt nicht schwer, alles zu Papier zu bringen, denn es ist in meinem Kopf, der ein Gefäß ist, aus dem das Entsetzen überläuft und auf das Blatt vor mir tropft. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und von der Nasenspitze.
Als das Bild schließlich am frühen Morgen fertig ist, wasche ich die Pinsel aus und verlasse mein Atelier. Ich schließe die Tür hinter mir ab und gehe in Julias Zimmer, wo ich mich in ihr Bett lege, die Pausentaste des CD-Players löse und aus den Gebrüdern Löwenherz Seite für Seite herausreiße.
D ie Nächte waren heiß und stickig, laut und hell. Autokorsos fuhren bis weit nach Mitternacht laut hupend durch die Straßen. Auch Sachsenhausen wurde von dieser Plage nun nicht mehr verschont. Und als der mitternächtliche Verkehr sich langsam beruhigte, waren es Fußballfans zu Fuß, die, angezogen von Kneipen im Viertel, betrunken grölend unter Yvonnes Fenster vorbeiwankten oder gegen die parkenden Autos pinkelten.
Doch auch wenn es kühler und stiller gewesen wäre, so hätte sie keinen Schlaf gefunden. Yvonne lag ausgestreckt auf der durchgeschwitzten Bettdecke und spürte, wie ihr der Schweiß den kahlen Kopf hinab auf das Kissen tropfte. Sie hatte die schmale Hand auf den flachen Bauch gelegt, so als müsste sie sich vergewissern, dass sie überhaupt noch atmete. Egal, ob sie die müde brennenden Augen geschlossen oder offen hielt: Die Bilder des Mannes und des Kindes verfolgten sie nun auch in den wachen Stunden, wenn sie mit sich und ihren Gedanken alleine war.
Und sie gewannen an Deutlichkeit, verschmolzen miteinander und wurden dabei so bedrohlich, dass Yvonne nicht mehr schlafen konnte. Ihr Gehirn und ihr Verstand, auf die sie sich beide nicht mehr verlassen konnte, konstruierten immer wieder eine Verbindung zwischen ihm und der kindlichen Leiche. Die Realität verbindet sich mit dem Wahn, dachte Yvonne und wischte sich den salzigen Schweiß aus dem Gesicht.
Ihre Hirnverletzung hatte viele Folgen gehabt. Hellsichtigkeit oder Visionen hatten eigentlich nicht zu ihnen gehört. Und dennoch fühlte sie diese fleischliche Existenz, roch den Gestank der Verwesung, hörte das Summen der Fliegen, sah die klaffenden Wunden, und es zerriss ihr das Herz.
Yvonne stand auf, ging zur Toilette und dann in die Küche, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. Sie schaltete das Licht an, es war ihr egal, ob man sie, nur mit einem Slip bekleidet, von der Straße durch das Küchenfenster sehen konnte. Die Uhr über der Tür zeigte Viertel vor drei. Sie füllte das Glas ein zweites Mal mit Wasser, aber anstatt es zu trinken, streckte sie den Kopf über die Spüle und goss es sich über den Nacken.
Sie hatte keine Vision, nein, das war es nicht, sie sah die Dinge nicht von außen. Sie waren in ihr drin, in ihrem Kopf, so als wäre sie von ihnen besessen. Der Mann und das Mädchen waren wie zwei Krebsgeschwüre, die alles andere verdrängten. Yvonne musste wissen, woher diese Bilder kamen, warum sie sie immer wieder sah, warum sie von ihnen verfolgt wurde und sie ihr Seelenheil raubten, Stück für Stück.
Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich an den kleinen Schreibtisch, wo sie aus der Schublade ein leeres Blatt Papier nahm. Yvonne konnte gut zeichnen. Früher hatte sie gerne mit Pinsel und Aquarellfarben gearbeitet und imaginäre Landschaften gemalt. Auf dem Schrank im Schlafzimmer lag eine dicke Mappe mit ihren Werken, die sogar Florian beeindruckt hatten. Ihr Gefühl für Formen und Bildkomposition war einmal sehr ausgeprägt gewesen. Seit dem Vorfall wurde sie ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht, deswegen hatte sie seit Langem keinen Stift mehr angerührt.
Der dünne Bleistift fühlte sich ungewohnt in ihrer ungelenken rechten Hand an, trotzdem begann sie zu zeichnen. Erst den groben Umriss des Kopfes, dann ein dünnes Kreuz, das die Koordinaten von Auge und Nase festlegte. Obwohl ihr Strich unsicher war, tastete sich Yvonne immer weiter voran und konzentrierte sich auf die Augen, die noch immer am lebendigsten in ihrer Erinnerung waren. Dann versuchte sie, sich den Mund vorzustellen, eine dünne, scharf gezogene Linie, umrahmt von einem grauen Bart, den sie nur mit wenigen Strichen skizzierte. Es war schwierig, sich das Gesamtbild vorzustellen. Immer wieder griff sie zum Radiergummi, korrigierte die Wangenknochen, den Ansatz der Ohren, die Form des
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