Lebenslang
Schädels. Doch es wollte ihr nicht recht gelingen. Nur die Augen schauten sie halbwegs lebendig an.
Die Sonne war schon lange aufgegangen, als sie schließlich mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden war. Sie räumte die Zeichenutensilien wieder weg, faltete das Blatt Papier akribisch zweimal und steckte es zwischen die Seiten ihres Notizbuches. Dann duschte sie lange. Um acht Uhr verließ sie das Haus und machte sich auf den Weg in die Schleusenstraße.
Die U-Bahn, die vom Schweizer Platz Richtung Hauptbahnhof fuhr, war um diese Zeit des Tages so voll, dass Yvonne nur einen Stehplatz weit ab von einer der Türen ergatterte. Sie hasste es, wenn so viele Menschen um sie herum waren. Die verbrauchten Gerüche, die wechselnden Eindrücke, die Gesprächsfetzen, die sie aufschnappte, überforderten sie. Es fiel ihr schwer, wichtige Informationen von unwichtigen zu unterscheiden. Yvonne versuchte wegzuhören, die Augen zu schließen, aber trotzdem machten die Geräusche sie aggressiv. Sie war froh, als sie endlich hinaus auf den Bahnhofsvorplatz trat und den Weg zum Baseler Platz einschlug, von wo aus es nicht mehr weit zur Schleusenstraße war.
Yvonne achtete darauf, dass sie den Menschen nicht zu nahe kam, egal, ob es eilige Geschäftsleute waren oder zerstörte, von der Nacht erschöpfte Existenzen, die nicht wussten, wo sie im schonungslosen Tageslicht ihren Platz finden sollten.
Das Obdachlosenprojekt befand sich in einem zugewachsenen Hinterhof und sah auf den ersten Blick wie ein kleines, gemütliches Café aus. Man hatte draußen einige Tische und Stühle aufgestellt, auf denen aber nur ein Mann und eine Frau saßen, die sich eine Zigarette drehten.
Der Mann sah aus wie ein Großstadtcowboy. Auf dem Kopf saß eine graue Südstaatenkappe, das Licht spiegelte sich auf den Gläsern einer runden Sonnenbrille. Der Schnauzbart, der die Form eines Fahrlenkers hatte und bis zum Kinn hinunterreichte, war grau und nikotingelb. Das T-Shirt drohte mit einem »Don’t mess with Texas«.
Die Frau, deren dünnes, blond gefärbtes Haar zu einem straffen Zopf geknotet war, hatte einen eingefallenen Mund, so als ob sie keine Zähne mehr hätte. Auch sie trug ein T-Shirt, das aber einen heulenden Wolf vor einem riesigen Mond zeigte. Ihre Jeans sahen neu aus, die Füße steckten in schwarzen Chucks. Sie blickten nur kurz auf, als Yvonne an ihnen vorbeiging. Dann widmeten sie sich wieder ihren Zigaretten.
Das Innere der Anlaufstelle war hell und freundlich eingerichtet. Eine mannshohe Birkenfeige, deren abgefallene Blätter sich in einem Terrakottatopf sammelten, sorgte für das nötige Grün. Am Schwarzen Brett hingen die Hausordnung sowie eine Reihe wichtiger Telefonnummern aufgelistet.
Yvonne klopfte an eine Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift »Büro« hing. Als niemand antwortete, drückte sie die Klinke hinunter, musste aber feststellen, dass die Tür abgeschlossen war. Ein wenig verloren und unsicher schaute sie sich um. Sie fühlte sich fehl am Platz. Wie ein Mensch, der mit verbotener Neugier ein fremdes Reich betrat. Dies war nicht die, in der sie sonst lebte. Was wollte sie hier?
»Thomas ist in der Küche, wenn du den suchst«, rief eine Stimme von draußen, die dem Anhänger der konföderierten Staaten von Amerika gehören musste.
»Danke«, rief Yvonne zurück. Jetzt bemerkte sie auch die leise Musik, die durch eine geöffnete Türe zu ihr drang. Sie betrat einen Raum, der eingerichtet war wie der Essenssaal einer Jugendherberge. Die Möbel waren schlicht, aber robust.
»Hi!«, rief eine Stimme aus der Küche. »Mit Ihnen hätte ich gar nicht gerechnet. Zumindest nicht so bald.«
Yvonne versuchte ihre Nervosität mit einem Lächeln zu überspielen.
»Hallo«, sagte sie.
»Hallo«, erwiderte Thomas den Gruß und strahlte sie an. »Ich bin gerade dabei, die Reste des Frühstücks wegzuräumen und das Mittagessen vorzubereiten. Wollen Sie eine Tasse Kaffee?«
»Gerne.«
Thomas öffnete einen Schrank und nahm ein Paket mit Keksen heraus, von denen er ein halbes Dutzend auf einer Untertasse verteilte. Im Vorübergehen drückte er den Knopf einer Kaffeemaschine, die gurgelnd zum Leben erwachte. »Milch? Zucker? Vielleicht Süßstoff?«
»Ja«, antwortete Yvonne.
»Entschuldigung, aber ›ja‹ was?«
»Milch und Zucker. Kein Süßstoff.«
Thomas schenkte zwei große Tassen ein und stellte sie auf einen der Tische. Dann holte er die Kekse, ein kleines Porzellankännchen mit Kaffeesahne und eine
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