Lebenslang
gegeben. Er hat geschworen, dass er alles tun wird, um denjenigen zu finden, der dies unserer Tochter angetan hat.
Ich habe Astrid nicht erzählt, was ich in der Gerichtsmedizin gesehen habe. So schrecklich der Anblick auch war, gleichzeitig hat mich eine seltsame Erleichterung ergriffen, als ich Julias toten Körper berührte. Hoffnung ist die Hölle. Das heißt jetzt nicht, dass mir die Gewissheit ihres Todes Frieden beschert hat. Aber die Angst um sie hat ein Ende gefunden.
Die Nächte verbringen wir immer noch zum größten Teil schlaflos. Astrid ist vollkommen verstummt. Den ganzen Tag liegt sie im Bett, weint, starrt vor sich hin und nickt ein, nur um kurz darauf wieder zu erwachen, weil sie sich in schrecklichen Bildern verliert, die ihre gequälte Phantasie hervorbringt. Ich weiß nicht, ob das, was sich in ihrem Kopf abspielt, schlimmer ist als das, was ich im Keller der Gerichtsmedizin gesehen habe. Es ist auch egal. Astrid geht durch die Hölle und ich mit ihr. Julias Zimmer haben wir noch immer nicht angetastet. Ich weiß nicht, ob wir die Tür nicht einfach abschließen und alles so lassen sollen, wie es ist. Bis ans Ende unserer Tage.
Astrid hat die Fotoalben aus dem Wohnzimmer geholt und blättert sie durch, immer und immer wieder. Das erste Bild, das wir von Julia haben, ist eine Polaroidaufnahme, die die Hebamme kurz nach der Geburt gemacht hat. Julia war kein hübsches Baby, aber es ist ein Bild, das sehr viel über uns sagt. Astrid hält Julia im Arm, ein rosa, zerknautsches Bündel, eingewickelt in eine Decke. Astrids Augen sind groß und rund, aber nicht vor Freude. Vielmehr sieht sie aus, als hätte sie hohes Fieber. Das Lächeln in ihrem Gesicht wirkt angestrengt. Ich sitze neben den beiden auf der Bettkante und habe meinen Arm um ihre Schulter gelegt, während Julia meinen kleinen Finger ergriffen hat. Sie drückt so fest zu, dass ihre winzigen Knöchel weiß hervorstehen. Damals zeichnete sich schon ab, dass Astrid diese postnatale Depression entwickelte, die sie für ein halbes Jahr fest im Griff behalten sollte.
Auch danach sollte das Verhältnis zu ihrer Tochter nie von dieser schwerelosen Liebe bestimmt sein, die man bei einer jungen Mutter fast schon selbstverständlich voraussetzt.
Diese Polaroidaufnahme, die ich in Händen halte, ist das einzige Bild, das ich betrachten kann, ohne dass dieses Entsetzen mich wieder schüttelt, das mich in der Gerichtsmedizin ergriffen hat und mich wahrscheinlich nie mehr loslassen wird.
Während Astrid Julia wohl mit diesen Fotos für sich am Leben erhalten will, muss ich einen anderen Weg gehen. Ich beginne, in meinem Atelier aufzuräumen.
Ich packe alle Bilder, die Julia gezeichnet hat, zusammen mit ihren Stiften in einen Karton. Doch diesen Karton bringe ich nicht auf den Dachboden oder gar in den Keller, sondern gebe ihm einen speziellen Platz auf einem Regal, wo ich ihn immer wieder hervorholen kann. Während ich das tue, frage ich mich, ob mit mir tatsächlich alles in Ordnung ist.
Ich spüre den Verlust, natürlich. Er brennt sich wie ein Tropfen Säure durch mein Herz. Aber ich weiß nicht, ob ich trauern kann. Tatsächlich regt sich ein anderes Gefühl in mir. Es ist Wut. Wut auf den Menschen, der meiner Tochter das angetan hat, der sie so bestialisch umgebracht hat.
Ich muss zeichnen, malen, dieser Wut ein Antlitz geben. Ich nehme also ein Blatt Papier und beginne. Normalerweise arbeite ich mit Tusche und Feder, mit Gouache und Acrylfarben. Keiner meiner Pinsel geht über die Stärke zwei hinaus.
Ich beginne mit einem harten Bleistift, skizziere die Umrisse und deute die Perspektive an, aber der Raum ist nicht wichtig. Wichtig ist nur das, was er umgibt. Diesen Tisch, auf dem Julias Körper aufgebahrt ist.
Sie ist noch bekleidet, der Mann im weißen Kittel hat noch nicht die Hose aufgeschnitten, das T-Shirt und die Unterhose. Er hat noch nicht in ihr Innerstes geschaut. Ich kenne Julias Proportionen auswendig, so oft habe ich sie gezeichnet. Doch als die Skizze fertig ist, radiere ich die Umrisse des Tisches, auf dem sie liegt, wieder weg. Es ist der falsche Ort. Der falsche Kontext.
Stattdessen zeichne ich einen See, Bäume, kniehohes Gras, das sie einrahmt und bettet. Es soll ein friedliches Bild werden, das ihr die Unschuld wiedergibt, die ihr geraubt wurde. Schicht für Schicht trage ich die Farbe auf, um so auf den Grund der Dinge zu gelangen.
Ich zeichne und male, während Astrid im Bett liegt und heult. Strich für Strich
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