Lebenslang
Haus.«
Yvonne stand auf und spähte durch den Vorhang hinaus auf die Straße. An der Ecke stand ein Taxi. Der Mann, der neben dem Mercedes stand, hob die Hand und winkte ihr zu. »Ich hätte geklingelt, aber ich kannte Ihren Nachnamen nicht.«
Yvonne nahm reflexartig eine Abwehrhaltung ein. »Woher wissen Sie, wo ich wohne?«
»Ich habe Sie gestern hier eingesammelt, erinnern Sie sich nicht mehr?«
Wütend legte Yvonne auf. Verdammt, was bildete dieser Kerl sich ein? Wieso stand er einfach vor ihrer Tür? Es hätte vollkommen ausgereicht, wenn er ihr die nötige Information am Telefon mitgeteilt hätte! Sie duschte nicht, sondern benutzte nur ihr Deo, zog sich an, schnappte sich ihre Handtasche, überlegte kurz, ob sie die Kappe aufsetzen sollte, entschied sich aber dagegen. Die Wut ließ ihren Puls rasen.
»Was wollen Sie von mir?«, herrschte sie Thomas an, als sie vor die Haustür trat.
»Ich wollte Sie wiedersehen«, sagte Thomas nur.
»Warum? Sammeln Sie Freaks?«
»Vielleicht. Glauben Sie, dass Sie einer sind?«
»Damit das von vornherein klar ist: Sie sind nicht mein Typ, ganz und gar nicht«, fuhr sie ihn an. »Und wenn ich etwas auf den Tod nicht ausstehen kann, dann sind es Menschen, die den Hobbypsychologen raushängen lassen und mir helfen wollen.«
Sie ging an ihm vorbei und setzte sich auf die Rückbank des Taxis. Bevor Thomas die Tür schließen konnte, hatte sie sie mit einem lauten Knall zugezogen. Er stieg ein und startete den Motor.
»Ich zahle für die Fahrt«, sagte Yvonne, und Thomas schaltete seufzend den Taxameter ein.
»Sagen Sie, treten Sie eigentlich jedem vors Schienbein, der einfach nur nett zu Ihnen sein will?«, fragte er, als sie an einer roten Ampel hielten. Yvonne antwortete nicht, sondern drückte auf ihrem Handy herum. Florian hatte eine SMS geschickt und wollte wissen, wie es ihr ging. Sie schaltete das Telefon aus und steckte es zurück in die Handtasche.
»Wenn es wirklich stimmt, was Sie mir über diese Kugel in Ihrem Kopf erzählt haben, werden Sie vermutlich sehr einsam sterben«, sagte er.
Yvonne antwortete nicht, sondern schaute zum Fenster hinaus. Überall sah sie Deutschlandfahnen, die meisten Autos waren geschmückt. Sogar einige Rückspiegel hatten einen schwarz-rot-goldenen Überzug.
»Vielleicht werde ich wirklich alleine sterben«, sagte sie. »Aber auf der anderen Seite tun das die meisten. Wenn sie nicht gerade ermordet werden.«
»Sie sagten, Sie haben bei der Polizei gearbeitet«, sagte Thomas. »Wahrscheinlich haben Sie dort einiges zu sehen bekommen.«
»Ja, vermutlich. Aber das meiste habe ich vergessen.«
»Kann ich mir denken.«
»Ach, können Sie das?«, fragte Yvonne. »Und wie-so?«
Thomas setzte den Blinker, und es begann leise zu klicken. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wenn Sie mir von sich erzählen, berichte ich Ihnen auch von mir.«
Yvonne beugte sich vor und stützte sich auf die beiden Rückenlehnen der Vordersitze. »Warum?«
»Warum was?«
»Warum bemühen Sie sich so um mich?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich Sie sympathisch finde.«
Jetzt musste Yvonne laut lachen. »Dann sind Sie ein Masochist. Sie kennen mich kaum.«
»Das kann man ändern«, sagte er gleichmütig.
»Entschuldigung, aber ich glaube, Sie haben ein ausgewachsenes Helfersyndrom.«
Thomas runzelte die Stirn und betrachtete Yvonne im Rückspiegel. »Das mag wohl so sein.«
Er flirtet mit dir! Sofort zog sich Yvonne wieder in sich zurück, aber gleichzeitig fühlte sich ein kleiner Teil von ihr geschmeichelt. Wie lange war es her, dass sich ein Mann für sie interessiert hatte und sie so nahm, wie sie war? Der sich nicht von ihrer rauen Art abschrecken ließ? Geduldig war? Sie nicht bevormundete oder mit guten Ratschlägen bombardierte? Yvonne beschloss, sich auf das Spiel einzulassen. Ein wenig.
»Also gut. Ich denke ohnehin, dass ich Ihnen für Ihre Hilfe etwas schuldig bin.«
»Wenn Sie das denken, ist das okay.«
Sie schaute aus dem Fenster. »Wo fahren wir eigentlich hin?«
»Kennen Sie die Containersiedlung am südlichen Ende des Ostparks?«
»Ich glaube, ja. Es ist eine Notunterkunft für Obdachlose, nicht wahr?«
»Der Mann, den wir treffen wollen, lebt dort. Sein Name ist Hermann.«
»Was wissen Sie sonst noch über ihn?«
Thomas musste grinsen.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Yvonne ärgerlich.
»Sie klingen jetzt, als würden Sie noch immer in Ihrem alten Beruf arbeiten. Hermann lebt
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