Lebenslang
Weg zur Intensivstation. Wir klingeln und warten, bis man uns öffnet. Mutter will vom Arzt wissen, wie es meinem Vater geht, und er schildert uns mit knappen Worten die Situation. Zwei Bypässe hätten sich geschlossen, der dritte sehe auch nicht gut aus. Man habe meinen Vater jetzt stabilisiert. Ich blicke auf den Koffer in meiner Hand. Mutter fragt den Arzt, ob wir zu meinem Vater dürften. Er überlegt kurz, schließlich nickt er und bittet uns hinein. Bevor wir die eigentliche Intensivstation betreten dürfen, müssen wir uns sterile Kittel und Schuhe überziehen. Den Koffer lassen wir im Schwesternzimmer stehen.
Der Arzt führt uns in einen Raum, der vollgestellt ist mit Apparaten, die leuchten, blinken und flimmernde Zahlen anzeigen. Beide Betten sind belegt. Mein Vater liegt in dem, das nahe an der Tür steht. Man hat ein halbes Dutzend Messfühler auf seine Brust geklebt und sich vorher noch nicht einmal die Mühe gemacht, die weißen Haare abzurasieren. Er ist an mehrere Infusionsbeutel angeschlossen, auf der Kuppe seines rechten Zeigefingers steckt ein Pulsmessgerät. Eine Manschette misst kontinuierlich den Blutdruck. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, ob die Besuchserlaubnis, die uns der Arzt erteilt hat, ein gutes oder schlechtes Zeichen ist.
Der Atem meines Vaters ist flach, der Brustkorb bewegt sich kaum. Eine Schwester stellt uns zwei Stühle hin, dann geht sie. Kein »Nur 10 Minuten«. Oder »Er darf sich nicht aufregen«. Vielleicht wundert mich das nur deswegen, weil ich mit Ausnahme von Julias Geburt noch nie ein Krankenhaus von innen gesehen habe.
»Fabian.« Die Stimme ist schwach, nur ein heiseres Flüstern. »Wie schön, dass du da bist.«
Ich nehme Vaters Hand und erschrecke, weil sie so kalt ist.
»Wie geht es dir, Walter?«, sagt meine Mutter und schnieft.
Doch mein Vater scheint die Frage zu ignorieren.
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich froh bin, dass du mein Sohn bist.«
Ich glaube, nicht richtig zu hören.
»Du weißt ja, dass ich nie so richtig mit dem einverstanden war, was du aus deinem Leben gemacht hast.«
»Was? Worauf willst du hinaus?«
»Du bist ein guter Junge«, fährt mein Vater schwach, aber ungerührt fort. »Mir tut es so leid, so leid …«, er wiederholt diese Worte tatsächlich zweimal, »… was Julia zugestoßen ist.«
Ich schlucke schwer.
»Du hattest noch nicht einmal Gelegenheit, dich von ihr zu verabschieden. Ich meine, so richtig. Ihr zu sagen, wie stolz du auf sie bist. Dass du alles für sie tun würdest.«
Mein Gesicht wird so kalt wie die Hand, die ich halte. »Du wirst nicht sterben!«
»Fabian, bitte.«
»Du wirst nicht sterben!«, wiederhole ich. Mir fallen dabei Astrids Worte ein. Kannst du es beschwören? Kannst du es versprechen? Wenn nicht, halte einfach den Mund.
»Fabian, hör mir doch bitte zu!«
Ich lasse die Hand meines Vaters los. Das hier ist mehr, als ich ertragen kann. Ich stehe auf, der Stuhl fällt klappernd um, und ich schüttele den Kopf, erst langsam, dann energisch. »Du wirst nicht sterben.«
Mutter fängt wieder an zu heulen. Die Schwester erscheint, um nach dem Rechten zu schauen. Ich stoße sie einfach beiseite. »Du wirst nicht sterben, hörst du?«
Die Schwester fasst mich am Arm, aber ich schüttele sie ab, reiße die Hände hoch, als wolle ich mich ergeben, und renne hinaus.
D as Klingeln riss Yvonne aus der Umarmung einer viel zu kurzen Nacht. Es dauerte einen Moment, bis sie wusste, wo sie sich befand und wer sie war. Sie angelte nach der Jeans, die über der Lehne eines Sessels lag, und holte das Handy aus der Hosentasche.
»Ja?« Yvonne rieb sich den Schlaf aus den Augen und zog die Vorhänge weiter zu.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«
Es dauerte einen Moment, bis sie die Stimme erkannte. »Thomas?«
»Erinnern Sie sich noch an die Zeichnung, die Sie von Ihrem großen Unbekannten angefertigt haben?«
»Natürlich.« Sie klemmte das Handy zwischen Schulter und Ohr, öffnete die Flasche Mineralwasser, die neben ihrem Bett stand, und trank einen warmen Schluck.
»Es sieht so aus, als würde ihn jemand kennen.«
Yvonne setzte die Flasche ab. Sie war wie elektrisiert. »Wer? Wo?«
»Ich bringe Sie zu ihm.«
Yvonne strich sich mit der Hand über den Kopf, dessen Haut sich wie ein unrasiertes Kinn anfühlte. »Okay, lassen Sie mir etwas Zeit. Ich muss mich noch frisch machen, dann komme ich in die Schleusenstraße.«
»Das wird nicht nötig sein. Ich warte bereits vor Ihrem
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