Lebenslang
schon seit über vierzig Jahren auf der Straße. Eine verdammt lange Zeit. Die meisten machen es nicht so lange. Er ist ein misstrauischer Kerl, erzählen Sie ihm also nicht, womit Sie früher Ihre Brötchen verdient haben.«
»Einen Teufel werde ich tun«, sagte Yvonne.
»Gut.«
Kurz darauf stellten sie den Wagen in einer Seitenstraße ab und gingen die letzten Meter zu Fuß. Yvonne hatte sich etwas anderes unter dieser Containersiedlung vorgestellt. Sie kannte noch die Asylantenheime aus den Neunzigerjahren, in denen man eigentlich noch nicht einmal Tiere hätte unterbringen dürfen. Hier sah alles auf den ersten Blick sauber und ordentlich aus. Die Wohncontainer, die aufeinandergestapelt waren, wirkten wie ein dauerhaftes Provisorium, für eine überschaubare Ewigkeit errichtet. Man hatte stählerne Balkone, Geländer und Treppen angebracht. Alles war in hellen und freundlichen Farben gehalten, doch wenn man genauer hinschaute, war alles schon mehrmals gestrichen worden. Der Lack schien nicht lange zu halten. Zudem lag ein Geruch nach Ammoniak und gedünstetem Kohl in der Luft.
»180 Menschen, verteilt auf 55 Unterkünfte«, erklärte Thomas. »Gewalt, Drogen, Alkohol, psychische Verwahrlosung. Hier finden Sie das ganze Repertoire. Die meisten, die hier fürs Erste eine Zuflucht finden, haben sich in ihrem früheren Leben nicht vorstellen können, einmal an solch einem Ort zu landen. Fast alle kommen aus normalen Verhältnissen, hatten einen Beruf und eine Familie.«
»Wie dieser Hermann?«, sagte Yvonne.
Er zeigte auf einen Container, an dessen Tür die Zahl 36 angebracht war. »Hoffentlich ist er da. Normalerweise ist Hermann zuverlässig. Darin unterscheidet er sich von den meisten anderen Obdachlosen. Aber wenn er einmal einen schlechten Tag oder, noch schlimmer, eine schlechte Woche erwischt, dann kann es schon passieren, dass er ohne Vorwarnung von der Bildfläche verschwindet.«
Er klopfte an die Tür und trat einen Schritt zurück. Nichts geschah. Thomas versuchte es noch einmal, aber als sich noch immer nichts rührte, zuckte er mit den Schultern. »Tut mir leid. Es scheint wohl heute einer dieser Tage zu sein.«
Sie wandten sich gerade zum Gehen ab, als die Tür geöffnet wurde und ein alter Mann herausschaute. Yvonne dachte im ersten Moment, er wäre nackt, aber es war nur sein dicker bleicher Bauch, der die Unterhose verdeckte. Arme, Hände und Gesicht waren tief gebräunt. Das Haar war wie der lange Bart grau und ungepflegt.
»Moment. Immer ruhig mit den jungen Pferden. Was ist denn los?« Seine Stimme klang wie ein Sack voller Walnüsse, der geschüttelt wurde. Er hustete rasselnd und zog die Nase hoch.
»Morgen, Hermann. Wir waren verabredet.«
Der dicke alte Mann kniff die Augen zusammen, sah aber noch immer nicht richtig.
»Hol dir erst mal deine Brille, dann weißt du auch, mit wem du sprichst.«
Hermann brummelte etwas und ging wieder hinein.
»Und bei der Gelegenheit könntest du auch deine Blöße bedecken!«
»Was soll ich?«, grollte es von drinnen.
»Dir was anziehen!«
Fünf Minuten später erschien der alte Mann wieder, diesmal steckten seine erstaunlich dünnen Beine in einer Jeans, die leidlich gewaschen war. Er hatte sich ein weites T-Shirt angezogen, stopfte es nun in den Bund der Hose und sah daraufhin wie ein Ballon auf Zahnstochern aus. Seine Füße steckten in ausgelatschten Birkenstocksandalen. Hermann setzte eine Brille auf, deren Gläser so zerkratzt waren, dass Yvonne sich wunderte, wie er damit überhaupt noch etwas sehen konnte.
»Ah, Damenbesuch. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich noch duschen gegangen.«
Yvonne wusste nicht, ob Hermann nur einen Witz machte oder es ernst meinte. Tatsächlich roch er ein wenig abgestanden nach kaltem Rauch und altem Schweiß.
»Was ist? Habt ihr Lust, mich auf einen Kaffee einzuladen?«
»Klar«, sagte Thomas. »Wo willst du denn hin? Zu Starbucks?«
Hermanns Lachen steigerte sich zu einem Husten. »Ja«, sagte er, nachdem er wieder genug Luft in seinen Lungen hatte. »Und dann setzen wir uns in einen dieser schicken Sessel, trinken Latte Trallala und tun so, als wären wir Graf Koks. Ein Kaffee drüben vom Kiosk reicht. Wir können uns in den Park setzen und zuschauen, wie die Tauben hier alles vollkacken.«
Hermann bekam seinen Latte Trallala, doch war er To go und nicht in einer Tasse. Sie ließen sich auf einer Bank nieder. Hermann stellte seinen Becher neben sich und begann, mit nikotingelben Fingern eine
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