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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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war überrascht, dass Hermann dieses Wort in den Mund nahm. Aber politische Korrektheit interessierte ihn wohl am allerwenigsten.
    »So gut wie nie«, gab Yvonne zu. Früher hatte es mal ein paar Situationen gegeben, in denen sie als Polizistin hatte einschreiten müssen. Doch die Erinnerung daran war blasser als eine Fotografie, die zu lange in der Sonne gelegen hatte.
    »Die meisten sind Wracks. Sie saufen, viele nehmen Drogen, und alle gehören eigentlich in die Klapse. Ein ordinäres Volk.«
    »Entschuldigen Sie bitte, aber wenn mich nicht alles täuscht, sprechen Sie auch von sich.«
    Hermann lachte und konnte nur mühsam einen neuen Hustenanfall unterdrücken. »Natürlich tue ich das. Aber ich bin kein Penner, darauf lege ich Wert.«
    »Sondern?«
    »Ein Berber. Ich betreibe Körperpflege, wasche meine Klamotten, wenn ich das Geld dazu habe. Ich trinke in Maßen und lasse die Finger von allen Sachen, die, in kleinen Tütchen verpackt, für teures Geld geschnupft, gespritzt oder inhaliert werden. Nein danke. Dann kann ich mich gleich vor die S-Bahn werfen. Der Typ, der sich dem kleinen Mädchen so unsittlich genähert hatte, war von einem ähnlichen Schlag. Er war sauber und ordentlich angezogen. Nicht unbedingt teure Klamotten, aber auch nicht der letzte getragene Dreck aus einer Kleiderkammer. Die Schuhe waren billig, aber neu. Das Haar war ordentlich geschnitten. Und er trug eine Brille, durch die man wirklich etwas sehen konnte. Nicht so ein Schrott, wie ich ihn da auf der Nase habe. Er war kein Trinker, so viel steht fest. Der Kerl war so abstinent wie ein gläubiger Moslem.«
    »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Yvonne.
    Hermann lachte müde, als er sich seine nächste Selbstgedrehte ansteckte. »Für so etwas habe ich einen Blick. Ich erkenne Abstinente, Trockene, Quartalssäufer, Spiegeltrinker und Korsakowkandidaten, ohne dass sie auch nur den Mund aufmachen müssen. Nein, der Kerl achtete auf sich, so viel war sicher.«
    »Wie lange ist das jetzt her?«, fragte Yvonne.
    »Zwei, drei Jahre.«
    »Und haben Sie ihn danach noch einmal gesehen?«
    Hermann blies den Zigarettenrauch aus und schnippte die Asche ab. »Ja, aber das sollte dauern. Ich hatte ja bereits gesagt, dass unter Kollegen zwar viel getratscht wird, man echte Geheimnisse aber für sich behält. Schließlich weiß ja keiner, ob sie nicht irgendwann einmal auf einen zurückfällt, diese Schwatzhaftigkeit. Aber egal. Jedenfalls habe ich mich einmal umgehört, denn der Typ war so ungewöhnlich, dass er mich eine Zeit lang nicht mehr losgelassen hat. Er fiel komplett aus dem Schema heraus, wenn man ihn sieht, dann denkt man automatisch an eine Doppelhaushälfte, einen Carport und einen Kombi. Irgendetwas Spießiges jedenfalls.«
    Yvonne versuchte sich den Mann noch einmal vorzustellen, den sie in der chirurgischen Ambulanz gesehen hatte. Die Beschreibung passte in allen Details auf ihn.
    »Nun, zumindest ein Mal ist es ihm nicht gelungen, sich Ärger vom Hals zu halten«, sagte sie. »Als ich ihn in der Notaufnahme der chirurgischen Ambulanz gesehen hatte, sah er aus, als hätte man ihn ziemlich übel zusammengeschlagen.«
    »Oh ja. Gerade jetzt, zu dieser Zeit, kann es für unsereinen ziemlich gefährlich sein. Es ist Fußballweltmeisterschaft. Und es ist Sommer. Viele Leute saufen mehr, als ihnen guttut. Auch ich sehe zu, dass ich bestimmte Ecken abends meide. Dieses beschissene Public Viewing kann mir jedenfalls komplett gestohlen bleiben.«
    »Du hast gesagt, dass du ihm noch einmal über den Weg gelaufen bist«, sagte Thomas.
    Hermann machte eine entschuldigende Handbewegung. »Ja, richtig. Also, nachdem die Geschichte mit dem Mädchen passiert war, hatte ich versucht, mich ein bisschen schlauzumachen, aber kaum jemand wusste etwas über ihn. Er vermeidet die üblichen Treffpunkte, und keiner weiß, wo er Platte macht, also die Nacht über schläft. Aber er ist schon sehr lange hier in der Stadt, länger als ich. Und vielen ist er unheimlich. Manche nennen ihn nur den Buchhalter, weil er wie jemand aussieht, der jeden Morgen in seinem Büro die Blätter seines Gummibaums abwischt. Nur dass er eben nicht arbeiten geht.«
    »Vielleicht ja doch«, sagte ich.
    »Dann aber schwarz und auf Tagesbasis, sonst würde er nicht die Mütze aufhalten. Nein, für die meisten von uns existiert er einfach nicht.«
    »Sie haben ihn noch einmal gesehen«, versuchte Yvonne Hermann wieder aufs Thema zu bringen.
    »Er scheint es wirklich mit kleinen

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