Lebenslang
die Klinge an den Knochen vorbeischabte. Noch immer atmete sie, stöhnte sie, würgte sie. War er verzweifelt? Vielleicht. Jedenfalls stand er unter Stress. Wieso zum Teufel starb das Mädchen nicht? Ein drittes Mal griff er ihr ins Haar und hob den Kopf hoch. Knochenstücke des fragmentierten Schädels knirschten aneinander. Er setzte das Messer an, holte dabei weit aus, durchschnitt die dicken Sehnen und die Halsschlagader und den Knorpel des Kehlkopfes, bis das Blut schaumige Blasen schlug. Dann lief der letzte Rest Leben aus dem kleinen Körper, und es war vorbei. Endlich.
Und Yvonne erwachte.
Sie schrie nicht, sie rührte sich nicht. Nur ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie stellte fest, dass sie genauso in ihrem Bett lag, wie das Mädchen, dessen Ermordung sie im Traum miterlebt hatte. Yvonne atmete flach, das Herz schlug noch immer im trägen Rhythmus des Schlafes. Es war dunkel, die Vorhänge zugezogen. Aber das Nachbild des Traumes flimmerte vor ihrem inneren Auge.
Tränen tropften auf das durchgeschwitzte Kopfkissen, und noch immer konnte sich Yvonne nicht rühren. Erst als vor dem Fenster die Vögel zu zwitschern begannen und die ersten Autos fuhren, fühlte sie sich in der Lage aufzustehen.
Doch dann musste sie sich am Vorhang festhalten, da ihre Beine einknickten. Die Halterungen der Schiene rissen mitsamt der Schrauben und Dübel aus der Decke. Die schwere Stoffbahn breitete sich wie ein Leichentuch über Yvonne. Licht flutete ins Schlafzimmer.
Sie strampelte den Stoff weg, stand auf und wankte ins Bad, wo sie den Kaltwasserhahn aufdrehte, sich Wasser ins Gesicht spritzte und mit zitternden Händen ein Glas füllte, das ihr aber sofort wieder aus den Händen glitt und mit einem hässlichen Klirren im Waschbecken zersprang. Yvonne starrte auf die Scherben, die sich wie kleine dünne Eisstücke im Strudel des abfließenden Wassers bewegten.
Schließlich riss sie sich zusammen und sammelte die Scherben ein, um sie in den Abfalleimer zu werfen, der neben der Toilette stand. Doch sie schnitt sich, und das Blut, das nun in den Ausguss tropfte, ließ sie aufschreien. Sie riss die Tür des Spiegelschranks auf und tastete mit der unversehrten Hand nach einem Pflaster. Flaschen und Dosen fielen um, bis sie schließlich die kleine blaue Plastikdose fand, in der sie das Verbandsmaterial aufbewahrte. Der Schnitt im Finger war nicht tief, aber die Wunde blutete, als wollte sie nie mehr versiegen. Yvonne riss ein Stück Klopapier von der Rolle, tupfte das Blut ab und bandagierte den Zeigefinger mit einem Pflaster.
Sie setzte sich auf den kalten Rand der Badewanne und weinte. Schließlich wischte sie sich mit dem Handrücken die Nase ab und zog die Jeans an, die sie am Abend zuvor zur schmutzigen Wäsche geworfen hatte. Es war schwierig, mit der verletzten Hand den Knopf zu schließen und den Gürtel zuzuziehen. Das T-Shirt, indem sie geschlafen hatte, behielt sie an.
Yvonne machte sich nicht die Mühe, Schuhe anzuziehen, sondern schlüpfte in die Flip-Flops, die sie zu Hause immer trug. Sterntaler hielt ihr den Schlüssel entgegen, und Yvonne nahm ihn. Dann warf sie die Wohnungstür hinter sich zu und hastete überstürzt aus dem Haus.
Sie spürte nicht den Regen, der auf ihren kahlen Kopf fiel.
Sie nahm die Menschen nicht wahr, an denen sie vorüberhastete.
Sie sah die Autos nicht, die im dichten Verkehr der Schweizer Straße fuhren.
Mechanisch einen Fuß vor den anderen setzend, ging sie durch die Stadt, rempelte Leute an und erntete dafür empörte Blicke und Bemerkungen. Das Bild des toten Mädchens, ihre letzten Atemzüge erfüllten Yvonne so sehr, dass sie nichts anderes mehr spürte. Weder sich noch die Welt um sie herum. Als sie den Spielplatz in der Brückenstraße erreichte, erblickte sie einen kleinen Jungen von vielleicht drei oder vier Jahren in einer gelben Regenjacke, der hingebungsvoll einen Spielzeugkipplader mit Sand füllte.
Yvonne hörte nur ihren eigenen Atem, ihr eigenes Herz schlagen. Langsam ging sie auf den Jungen zu und kniete sich vor ihn nieder.
»Florian«, flüsterte sie.
Der Kleine blickte auf und hielt mit dem Schaufeln inne. »Ich heiße nicht Florian.«
Doch in diesem Moment war dieses Kind ihr Kind, ihr eigener Sohn, wieder klein und unschuldig, aufgeweckt und liebevoll und voller Vertrauen. Sie streckte ihre Hand aus, und der Junge ergriff sie nach kurzem Zögern. Er sagte etwas, wandte den Blick ab und lächelte.
Dann umarmte Yvonne das Kind.
Eine Hand
Weitere Kostenlose Bücher