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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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packte sie grob an der Schulter und schüttelte sie. Yvonne drehte sich um. Neben ihr stand eine Frau und redete auf sie ein, aufgebracht und wütend. Yvonne verstand nicht, was sie sagte. Der Junge, der sie zuvor so freundlich angestrahlt hatte, kämpfte sich nun mit aller Kraft aus ihrer Umarmung. Yvonne streckte die Hand nach ihm aus und erhielt daraufhin einen solch heftigen Stoß, dass sie umfiel und im Sand landete. Andere Frauen waren jetzt der Mutter zu Hilfe geeilt. Eine von ihnen hatte ihr Telefon am Ohr. Yvonne stand wankend auf und lief, so schnell sie es in ihren Flip-Flops vermochte, davon.
    Die Frauen folgten ihr nicht.
    Nachdem sie zehn Minuten gerannt war, fiel sie wieder in den alten langsamen Schritt zurück. Überall sah sie jetzt Kinder. Ein gut gelaunter Junge in Gummistiefeln, der an der Hand seines stolzen Vaters vom Bäcker kam. Drei Mädchen, die tuschelnd und kichernd unter einem großen Schirm standen. Ein kleines Kind, dessen Mutter einen Regenschutz über den Buggy spannte.
    Yvonne weinte verzweifelt, denn sie wusste, dass sie nicht alle würde beschützen können. Aber sie konnte versuchen, den Mörder zu finden, der noch immer in der Stadt war, vielleicht sogar ganz in der Nähe, und nur auf eine weitere Gelegenheit wartete, erneut ein unschuldiges Leben töten zu können. Die Leere in ihr wurde von Hass und Angst verdrängt.
    Sie musste den Mann finden.
    Hermann hatte gesagt, dass er ihn das letzte Mal vor einer Schule gesehen hatte.
    Schulen.
    Kindergärten.
    Spielplätze.
    Sie würde ihn finden, und wenn sie damit den kurzen erbärmlichen Rest ihres kläglichen Lebens verbrachte.
    Yvonne spürte, wie sie in die Wirklichkeit zurückkehrte. Die letzten Reste des Albtraums verloren langsam die Konturen und versanken wie eine Moorleiche im Morast ihrer verschütteten Erinnerungen.
    Doch wo sollte sie beginnen? Sie musste planvoll vorgehen, sich genau überlegen, wo sie nach ihm suchen sollte. Sie konnte nicht überall gleichzeitig sein.
    Ziellos streifte sie durch die Straßen der Stadt. Einige Läden und Straßenecken kamen ihr bekannt vor, doch die Erinnerung an diese Plätze war wie das Echo eines Déjà-vu. Yvonne hatte ihre Handtasche nicht mit dabei, in der sich der Stadtplan und ihr Notizbuch befanden, die sie sonst beide wie einen Ariadnefaden benutzte, um den Weg nach Hause zu finden. Es gab Tage, an denen sie ohne diese Hilfe auskam. Der heutige Tag gehörte nicht dazu.
    In ihrem Kopf hatte sich ein ungeheurer Druck aufgebaut, der Schmerz hinter den Augen war kalt und stechend. Der Regen hatte ihre Kleidung mittlerweile vollkommen durchnässt. Sie fror. Es gelang ihr, die mitleidigen und manchmal auch belustigten Blicke zu ignorieren. Es waren glücklicherweise nicht viele, die ihr diese unangenehme Aufmerksamkeit widmeten.
    Die meisten, die ihr entgegenkamen, machten einen Bogen um sie oder wechselten die Straßenseite. Und wenigstens suchte niemand ihren Blick. Als sie den Main überquerte und die Berliner Straße erreichte (von der sie vergessen hatte, dass sie so hieß), hatte sie das Gefühl, mit jedem Schritt unsichtbarer zu werden.
    Der Regen hatte nachgelassen, die Wolken brachen auf, und die Sonne schien warm aus einem sommerlichen Himmel. Von den Straßen stieg ein feiner Nebel auf, der sich aber sofort auflöste, als der Asphalt sich erwärmte und schließlich trocknete.
    Die Menschen, die an ihr vorbeieilten, waren konturlose Schemen, Geister auf der Flucht vor dem Stillstand. Nur die Gestalten, die entkräftet auf den Bänken saßen oder in Hausecken knieten, die Hand ausgestreckt und um eine milde Gabe bettelten, die sah sie.
    Und es gab viele von ihnen, das bemerkte Yvonne erst jetzt. Sie sprach einen Mann an, der offenbar seine gesamte Habe in einem Rucksack und zwei Plastiktüten bei sich trug, wusste aber nicht, ob sie irgendetwas Verständliches sagte oder ob die Gestalt einfach nur zu müde und zu betrunken war, um ihr zu antworten.
    Die Menschen, die in ihrer Erstarrung gefangen waren, beachteten sie genauso wenig wie die vorbeihuschenden Geister.
    Trotzdem ging sie von einem zum anderen, rüttelte an Schultern, schrie und gestikulierte, aber niemand war bereit, ihr zu helfen. Erst als sie auf die Knie sank und ihre Verzweiflung herausschrie, nahm ein Schemen plötzlich feste Gestalt an. Eine Frau beugte sich zu ihr hinab, eine Afrikanerin, die wie sie den Kopf kahl geschoren hatte. Hinter all den Tränen musste Yvonne jetzt lachen.
    Sie streckte die Hand

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