Lebenslang
letzten Sommers vom Hortfotografen gemacht wurde. Darauf sieht sie so lebendig aus, dass ich den Blick abwenden muss.
Wir nehmen in der ersten Reihe Platz, die für die Familie reserviert ist. Astrids Eltern sind schon lange tot, Wieland ist der einzige Angehörige, den sie noch hat. Die Glocken beginnen zu läuten. Ich höre, wie sich die Kirche füllt, drehe mich aber nicht um. Orgelmusik ertönt, laut und aufdringlich. Wieland hat endlich einen Parkplatz gefunden und setzt sich zu uns. Eine Predigt wird gehalten. Ich höre die Worte, aber ich verstehe sie nicht, sosehr ich mich auch anstrenge. Immer wieder wird alles von Kirchenmusik unterbrochen. Wir stehen auf, beten, setzen uns wieder hin, die Orgel kreischt, wir stehen wieder auf und setzen uns wieder hin. Dann treten die Menschen vor, die in Julias Leben eine wichtige Rolle gespielt haben. Ihre Klassenlehrerin erzählt, was für ein fröhliches Mädchen sie war und was für ein Glück alle hatten, die sie kennen durften.
Dann tritt Sandra vor, ihre beste Freundin, sie liest unter Tränen eine Passage aus den Gebrüdern Löwenherz vor. Die Welt ist voller Zeichen, man muss sie nur zu deuten wissen. Ich habe die herausgerissenen Seiten zusammen mit dem leeren Einband in den Müll geworfen.
Wieder spielt die Orgel, wieder wird gebetet. Dann wird der Sarg herausgerollt. Astrid, Wieland und ich führen die Spitze des Trauerzugs an.
Erst jetzt sehen wir, wie voll die Kirche ist. Und wie viele Menschen noch vor ihr stehen, die keinen Einlass gefunden haben. Der Sarg wird in einen Leichenwagen geschoben. Von Beileidsbezeugungen bitten wir abzusehen. Bis jetzt hält sich jeder daran.
Wir gehen mit Wieland zu dem Parkplatz, den er so lange hat suchen müssen, und steigen ein. Wir sind nicht die Ersten am Friedhof. Ich sehe Kinder, viele Kinder. Die meisten sind aus ihrer Klasse, viele aus dem Sportverein. Der ganze Ort scheint auf den Beinen zu sein. Auch die Presse ist anwesend. Aber sie weiß, dass sie draußen bleiben muss. Astrid versteckt sich hinter Wieland. Wir hasten durch das offene Tor.
Der Friedhof hat eine Ecke, die nur für Kinder reserviert ist. Wir sehen das offene Grab und den weißen Sarg, der auf einem Gestell steht. Die Totengräber halten sich abseits und haben ihre Mützen abgesetzt. Der Pfarrer erwartet uns schon. Ich frage mich, wie er es geschafft hat, so schnell hierherzukommen. Wieder liest er etwas aus der Bibel vor, und wieder höre ich nicht zu. Gott kümmert sich nicht um seine Geschöpfe. Warum also soll ich mich um ihn kümmern? Dann kommt der schwerste Moment. Der Moment, vor dem ich den ganzen Tag gezittert habe. Der Sarg wird in die Grube hinabgelassen.
Astrid heult auf und verliert die Fassung. Ich muss sie festhalten, denn für einen kurzen Moment sieht es so aus, als würde sie am liebsten hinterherspringen. Die Vorstellung, dass in dieser kleinen Kiste meine Tochter liegt, zerreißt mein Herz in zwei Hälften. Ich stelle mir vor, wie sie im Inneren dieses Sarges gegen den Deckel klopft, herausgelassen werden will, weil alles nur ein irrsinniges Versehen ist und sie eigentlich noch lebt. Aber niemand hört ihr Schreien und Rufen, zum zweiten Mal. Ich versuche den Mann daran zu hindern, die Kurbel zu drehen, mit der der Sarg heruntergelassen wird. Der Pfarrer hält mich fest, und ich stoße ihn beiseite. Mir ist es egal, was für ein jämmerliches Schauspiel ich in diesem Moment abgebe. Erst jetzt begreife ich in einer entsetzlichen Endgültigkeit, dass ich meine Tochter nicht zurückbekommen werde. Schließlich gebe ich auf und lasse mich von Wieland wegführen. Wir gehen zurück, vorbei an den Menschen, die sich zu einer langen Schlange aufgereiht haben, als gäbe es hier etwas umsonst. Am Tor steht Schumacher, zusammen mit einigen Beamten.
Ich frage mich, warum er sich nicht wie alle anderen angestellt hat, als er auf meinen Schwager zutritt. »Wieland Lenz, ich nehme Sie fest. Sie stehen unter dringendem Verdacht, Ihre Nichte Julia Steilberg umgebracht zu haben.«
Y vonne erwachte, und sie war nicht allein. Neben ihr am Krankenbett saß Florian und hielt ihre Hand in seiner. Sie spürte seine Erleichterung, als sie mit flackernden Lidern ihre Augen öffnete.
»Hi«, flüsterte er nur.
Yvonne leckte die trockenen Lippen und versuchte sich zu räuspern, aber ihr Mund war eine einzige Wüste. Florian gab ihr einen Schluck Wasser.
»Wie fühlst du dich?«, sagte er.
»So, wie ich wahrscheinlich auch aussehe«, erwiderte
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