Lebenslang
alles anders. Hatte Yvonne in ihren Träumen und Visionen zuvor den Schrecken in den Augen des Mädchens gesehen und ihre Schmerzen gespürt, so war sie in dieser Nacht in die Rolle des Verfolgers geschlüpft. Yvonne glaubte seine Wut zu spüren, die sich mit der Angst vor Entdeckung paarte. Das Adrenalin schoss durch seinen Körper und ließ sein Herz rasen. Er trug schwere Schuhe und eine lange dunkelgraue Hose, die für das Wetter eigentlich viel zu warm war. Schweiß prickelte auf seinem Kopf, lief ihm den Nacken hinab, bis er vom T-Shirt aufgesaugt wurde. Die heiße Luft trocknete ihm den Mund aus und brannte in den Lungen. Er war frustriert, denn er hatte die Spur des Mädchens verloren.
Das Waldstück war groß. Zwischen dem dichten Laub der Bäume konnte er das glitzernde Wasser des Sees erkennen. Er musste nur die Augen offen halten, dann würde er sie sehen. Er blieb stehen, atmete einige Male tief durch und lauschte. Die Turbinen tief fliegender Flugzeuge jaulten klagend auf. Der Wald war leer, und das war sein Glück. Viele saßen heute Nachmittag vor den Fernsehern, schauten Fußball und grillten.
Vorsichtig setzte er einen Schritt vor den anderen, ging in die Hocke und schaute unter das Blätterwerk der Büsche. Er wusste, dass sich nicht weit von hier ein Schießplatz und eine Hundeschule der Polizei befanden. Er musste unbedingt verhindern, dass das Mädchen den Weg dorthin fand.
Ein leises Knacken, ein vorsichtiges Rascheln, nicht weit von ihm entfernt! Er richtete sich wieder auf, ganz Auge, ganz Ohr. Wieder dieses Geräusch! So, als würde ein Fuchs durchs Unterholz schleichen, um seinem Jäger zu entgehen.
Er verließ den Weg, drückte die Äste eines Busches beiseite. Da hockte sie, zusammengekauert, die Arme um die dünnen, schmutzigen Beine geschlungen. Das rote T-Shirt war zerrissen. Darunter blutete eine Wunde. Sie musste an einem Ast hängen geblieben und gefallen sein. Die Knie waren aufgeschürft, schmutziges Blut lief in dünnen Rinnsalen das Schienbein hinunter.
Tu mir nichts, flehte das Kind.
Er wusste nicht, ob er die groben Arbeitshandschuhe schon die ganze Zeit getragen oder jetzt erst angezogen hatte. Sie wehrte sich nicht, als er in ihr Haar griff und sie mit einem Ruck hochriss. Aber sie schrie.
Tu mir nichts.
Er konnte das Jammern nicht ertragen. Und er konnte nicht zulassen, dass doch irgendjemand hörte, was hier geschah.
Also drückte er seine Hand auf ihren Mund. Durch das raue Leder fühlte sich das Gesicht klein und verletzlich an. Wie das einer zerbrechlichen Puppe.
Das Mädchen schlug jetzt wild um sich, versuchte ihn zu kratzen, drang mit den Fingernägeln aber nicht durch die Jacke durch, die er trug. Er schlug ihren Kopf gegen den Stamm einer Eiche. Einmal. Zweimal. Vielleicht auch dreimal oder viermal. Ihr Widerstand ließ nach. Rindenstücke und Moos hatten sich in ihren Haaren verfangen, die Kopfhaut war aufgeplatzt wie die Pelle einer Wurst, die man in kochendes Wasser gelegt hatte. Sie blutete, seine Handschuhe waren ganz besudelt. Er würde sie wegschmeißen müssen, wie die Kleidung, die er trug. In diesem Moment war ihm klar geworden, dass er wirklich bereit war, den letzten Schritt zu gehen. Er würde sie töten.
Der Gedanke daran erregte ihn nicht. Im Gegenteil, er machte ihn noch wütender, denn er musste vorsichtig sein. Er durfte keine Spuren hinterlassen. Jede Nachlässigkeit würde wie ein ausgestreckter Finger auf ihn zeigen.
Dabei liebte er dieses Mädchen eigentlich. Er wollte ihr nicht wehtun, wirklich nicht. Aber die Umstände zwangen ihn dazu.
Er packte sie unter den Armen und versuchte, sie hinunter zum See zu ziehen, wo niemand sie sehen konnte. Doch das T-Shirt rutschte hoch, und sie entglitt ihm. Also griff er ihr wieder ins Haar, ballte die Faust und zerrte sie hinter sich her. Sie war schwer.
Stöhnte sie? Erwachte sie aus der Bewusstlosigkeit? Bewegten sich ihre Füße? An der Böschung des Sees ließ er sie fallen. Dann hob er einen schweren Stein auf. Er wusste nicht, ob er zögerte und, wenn ja, wie lange. Aber letzten Endes schlug er doch zu.
Der Schädel zersprang nicht sofort, dann aber drückte das Innere des Kopfes das rechte Auge aus seiner Höhle. Der Körper zitterte, gurgelnde Geräusche stiegen aus der Kehle auf. Das Kind war noch immer nicht tot!
Er ließ den Stein fallen, holte aus einer seiner Taschen ein Messer und stach zu, immer und immer wieder. Er zielte auf den Oberkörper, auf den Rücken, spürte, wie
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