Lebenslang
entsetzlich nach vulkanisiertem Gummi stinkt. Ich muss mir etwas anderes einfallen lassen. Vielleicht nehme ich sogar die Matratze aus meinem Bett. Astrid hat mich ohnehin aus dem Schlafzimmer verbannt.
Nach und nach fische ich Julias Kleidungsstücke aus der schmutzigen Wäsche und lege sie in einen Extrakorb. Es gibt doch diese Vakuumbeutel. Vielleicht kann ich ihre Sachen darin aufbewahren. Ich mache mir im Geiste eine Notiz, dann werfe ich die schwarzen Sachen in die Waschmaschine, stelle sie auf 30 Grad Feinwäsche. Ohne Vorwäsche, kein Weichspüler. Dann schalte ich die Maschine an. Das Programm sagt mir, dass es exakt eine Stunde und siebenundvierzig Minuten benötigt, bis es fertig ist. Ich bin erschöpft.
Oben im Wohnzimmer muss ich erst die Couch freiräumen. Auch auf dem Sessel liegt alles Mögliche. Also gehe ich hinauf in mein Atelier. Und betrachte noch einmal das Bild, das ich gemalt habe, und breche wieder in Tränen aus. Sie fehlt mir so sehr. Ich vermisse ihre Berührung, das Kitzeln ihrer langen Haare, ihre kokette, manchmal etwas freche Art. Ich vermisse die verschiedenfarbig lackierten Fingernägel. Ich vermisse ihre Unordnung. Ich vermisse ihr Gejammer, wenn sie keine Lust hat, ihre Hausaufgaben zu machen. Ich vermisse die Streitereien, wenn es darum geht, dass sie ihr Zimmer aufräumen soll. Ich vermisse die Grübchen auf ihren Wangen. Ich vermisse ihre blauen Augen. Ich vermisse ihre Nähe.
Ich weiß nicht, ob sich Astrid eine Mitschuld an Julias Tod gibt. Ich weiß nicht, wie es in ihr aussieht. Ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt noch liebt.
Es klingelt an der Haustür. Astrid wird nicht öffnen, und ich habe auch keine Lust auf Besuch. Ich will niemanden sehen. Doch wer immer vor der Tür steht, er ist hartnäckig. Das Klingeln lässt nicht nach. Schließlich stehe ich auf, gehe hinunter und öffne. Es ist Schumacher.
Im Gegensatz zu sonst trägt er heute keine Uniform, so als käme er als Freund und nicht als Polizist. »Darf ich eintreten?«, fragt er. Ich gehe beiseite und schließe die Tür hinter ihm.
Schumacher sieht die Unordnung, das Schlachtfeld, in dem wir leben. Nun schäme ich mich dafür, wie es hier aussieht. Ich räume hastig einen Stuhl frei, damit er sich setzen kann.
»Wie geht es Ihnen?«, frage ich ihn, und er schaut mich überrascht an.
»Das wollte ich eigentlich Sie fragen«, erwidert er.
Ich zucke mit den Schultern. »Warum sind Sie hier?«, frage ich ihn.
»Ich wollte Ihnen nur zeigen, dass wir Sie nicht vergessen haben.«
»Gut zu wissen.« Ich reibe mir müde die Augen. »Wo ist eigentlich Ihre Kollegin? Die kleine zierliche?«
»Polizeikommissarin März«, sagt Schumacher.
»Ja, genau. Sie beide sind doch sonst immer unzertrennlich.«
»Frau März ist krankgeschrieben.«
»Oh«, mache ich nur. »Hoffentlich ist es nichts Schlimmes.«
»Doch, ist es. Sie hat einen Zusammenbruch erlitten.«
»Warum?«, frage ich.
»Sie war diejenige, die die Leiche Ihrer Tochter gefunden hat«, sagt Schumacher. »Seitdem ist sie in psychologischer Behandlung.«
Ich sehe Schumacher einen langen Moment verdutzt an. Und dann lache ich, so laut und so heftig, dass mir die Tränen kommen und mir die Luft wegbleibt. »Entschuldigen Sie bitte«, sage ich und kann mich kaum beherrschen. »Aber sie hatte einen Zusammenbruch, weil sie die Leiche meiner Tochter gefunden hat?«
»Ja.« Schumacher lacht nicht.
»Julia ist mein Kind. Und ich habe die Leiche auch gesehen.«
»Ja«, sagt Schumacher nur. Noch immer zeigt sich keine Regung auf seinem Gesicht.
Mein Lachen erstirbt. »Warum sind Sie hier?«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Sie sollen wissen, dass wir Sie nicht vergessen haben.«
»Geschenkt. Warum noch.«
Erst jetzt weicht Schumacher meinem Blick aus. »Der Obduktionsbericht ist fertig.«
»Und? Was steht in ihm, was ich nicht schon gesehen habe?«
»Nichts«, sagt Schumacher.
»Aber?«
Schumacher zögert. »Die Staatsanwaltschaft hat ihn an die Presse gegeben.«
Ich sehe ihn verwirrt an. Dann verstehe ich. Natürlich werden ihn die Zeitungen abdrucken, zumindest zitieren. Es wäre so, als würde meine Tochter noch einmal sterben, und jeder würde dabei zuschauen.
»Raus«, flüstere ich und stehe auf. »Los, raus mit Ihnen.«
Schumacher erhebt sich. Ich packe ihn an seiner Jacke und zerre ihn zur Haustür. »Ich will Sie nicht wiedersehen.«
»Es tut mir leid, aber diesen Wunsch werde ich Ihnen nicht erfüllen können.«
D iesmal war
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