Lebenslang
Yvonne. Sie hob den linken Arm und stellte fest, dass im Handrücken eine Braunüle steckte. Klare Flüssigkeit tropfte aus einem aufgehängten Beutel in den durchsichtigen Schlauch.
»Weißt du, was geschehen ist?«, fragte Florian.
Yvonne stellte fest, dass sie diesmal in einem Zweibettzimmer lag und dass das andere Bett leer war.
»Nicht wirklich«, sagte sie und stützte sich auf die Ellbogen, um zu sehen, ob nicht irgendwo noch mehr Wasser war. Florian begriff und schenkte ihr noch ein Glas ein, das sie gierig leerte.
»Man hat dich auf der Zeil gefunden«, sagte Florian.
»Hatte ich einen Anfall?«
»Keinen epileptischen. Es war ein Zusammenbruch. Die Frau, die den Notarzt rief, hat mir erzählt, dass du vollkommen verwirrt warst, wahllos Leute angesprochen hast und sie unverständliche Dinge fragtest.«
Yvonne hatte plötzlich wieder das Bild des toten Mädchens vor Augen. »Ich hatte geträumt«, sagte sie so leise, dass sie selbst kaum verstand, was sie sagte.
Florian runzelte die Stirn und blickte sie fragend an.
»Ich sehe seit einiger Zeit Bilder eines ermordeten Kindes«, sagte sie und drückte seine Hand. »Der Traum, den ich vorletzte Nacht hatte, war besonders schlimm. Ich habe durch die Augen des Mörders gesehen, wie er das Mädchen umbrachte.«
Florian stöhnte und rieb sich die Stirn.
»Ich sehe diese Bilder, seitdem mir in der Notaufnahme dieser Mann begegnet ist. Ich glaube, dass er etwas mit diesem Mord zu tun hat.«
»Einem Mord, den du aber nur in deinen Träumen gesehen hast«, sagte Florian vorsichtig.
Einen kurzen Moment lang spürte sie Zorn in sich aufsteigen, aber sie hatte nicht die Kraft, um jetzt mit ihrem Sohn zu streiten. »Ja«, sagte sie.
»Die Ärzte haben gesagt, dass dein Hirnabszess wächst und beginnt, gesundes Gewebe zu verdrängen.«
»Ich habe keine Halluzinationen«, erwiderte Yvonne, so fest sie konnte.
»Darauf wollte ich nicht hinaus«, sagte Florian.
»Sondern?«
»Du wirst nicht mehr alleine leben können«, sagte Florian.
»Wer sagt das?«
»Nicht ich. Die Ärzte. Hast du das Antibiotikum genommen?«
Yvonnes Gesicht wurde taub. Das Rezept für die Medikamente war noch immer in ihrer Hosentasche.
»Du hast es vergessen, nicht wahr?«, sagte Florian.
Yvonne nickte. Plötzlich fühlte sie sich hilflos. Florian strich ihr über die Wange und schaute sie an, als wäre sie ein krankes, unvernünftiges Kind. »Ich werde wieder bei dir einziehen.«
Zu ihrer Überraschung war diese Ankündigung für Yvonne eine Erleichterung. Zum ersten Mal seit Langem wollte sie nicht alleine sein. Sie ahnte, dass ihr vielleicht nicht mehr viel Zeit blieb. Yvonne erinnerte sich wieder an den Zusammenbruch, wie die Menschen als geisterhafte Schemen an ihr vorbeigehuscht waren und sie sich noch nie so alleine gefühlt hatte wie in diesem Moment.
»Danke«, sagte sie. »Danke, dass du so viel Geduld mit mir hast.«
Florian küsste die Hand seiner Mutter. »Wahrscheinlich wirst du sehr bald Gelegenheit bekommen, um dich zu revanchieren, denn ich werde dich von jetzt an keinen Augenblick mehr aus den Augen lassen. Ich werde dafür sorgen, dass du deine Medikamente nimmst. Ich werde dafür sorgen, dass du deine Arzttermine einhält. Und ich werde dafür sorgen, dass du dich nicht aufgibst, okay?«
»Okay«, flüsterte sie.
Yvonne wollte ihre Entlassung aus dem Krankenhaus feiern. Als sie Florian von ihrem Plan berichtete, war er überrascht, aber fest entschlossen, sie darin zu unterstützen. Es würde eine kleine Party werden, hatte sie sich vorgenommen. Außer Florian würden nur noch die Nachbarn aus dem Haus kommen, mit denen sich Yvonne verstand. Und Thomas. Sie würde einkaufen und kochen, und ihr Sohn würde ihr dabei helfen, wenn sie Schwierigkeiten bei der Zubereitung des Essens haben würde. Es war schon lange her, dass Yvonne für Gäste gekocht hatte. Sie war vermutlich etwas aus der Übung, aber sie hatte den Ehrgeiz, es so gut wie möglich hinzubekommen.
Yvonne hatte in den letzten drei Tagen kein Wort mehr über ihre Visionen verloren. Und auch an die Träume, die sie nachts hatte, konnte sie sich am Morgen darauf nicht mehr erinnern. Sie wusste nicht, woran es lag, vielleicht an den Medikamenten, die man ihr nun zusätzlich verschrieben hatte.
Sie selbst war am meisten erstaunt über ihren Wandel. Aber sie war der Überzeugung, dass sie an dem Tag, nachdem sie diesen schrecklichen Traum gehabt hatte und in der Stadt zusammengebrochen war, dem eigenen
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