Lebenslang
zeigen. Bilder aus der Zeit vor dem … Vorfall.«
Thomas gab die Scheiben in einen großen geflochtenen Korb, klopfte das Brett über der Spüle ab und wischte mit einem feuchten Lappen über das Holz. Yvonne nahm den Untersetzer, Thomas den Topf. Gemeinsam gingen sie ins Esszimmer, wo die anderen schon am Tisch saßen.
Florian stand mit zwei Flaschen Wein im Arm da, einem roten und einem weißen. Thomas hob abwehrend die Hand, als er sich setzte. »Besten Dank, aber ich bin schon lange trocken.«
Axel, der sich ein Bier eingeschenkt hatte, blickte auf. »Sie sind alkoholkrank«, stellte er fest.
Thomas nickte. »Seit ich fünfzehn bin.«
Florian, der seiner Mutter gegenüber am Kopfende des Tisches saß, nahm sich ein Stück Brot. »Sie nehmen das aber sehr locker.«
Thomas lächelte gequält. »Ich nehme das überhaupt nicht locker«, sagte er. »Ich sehe das Bier, das Axel trinkt, und bekomme sofort Lust darauf. Nein, Lust ist nicht das richtige Wort. Gier.«
»Oh«, machte Axel schuldbewusst und stellte die Flasche vom Tisch. »Tut mir leid, wenn ich das vorher gewusst hätte, wäre ich auch beim Wasser geblieben.«
Thomas zuckte mit den Schultern. »Nein, ist schon in Ordnung. Schließlich ist es ja mein Problem und nicht Ihres.«
Axel stand auf, nahm die Flasche und sein halb leeres Glas und brachte es in die Küche.
»Danke«, sagte Thomas, als Axel sich wieder setzte. »Sie sind der Erste, der das für mich tut.«
Sie aßen gemeinsam. Florian hatte die kleine Anlage eingeschaltet, obwohl Yvonne es eigentlich nicht mochte, wenn beim Essen im Hintergrund Musik spielte. Es machte sie nervös, zumal der Geschmack ihres Sohnes nicht unbedingt mehrheitstauglich war. Aber jetzt überbrückte leise Jazzmusik das Schweigen.
Yvonne fühlte sich unbehaglich. Sie wollte nichts falsch machen. Ihr Sohn war ungewöhnlich still. Immer wieder wanderte sein Blick von Thomas zu ihr und wieder zurück. Auch Axel und Bianca saßen ein wenig steif da, als sie ihre Suppe löffelten.
Als alle ihre Teller geleert hatten, stand Florian auf, um den Tisch abzuräumen, doch Thomas kam ihm zuvor.
»Ist schon in Ordnung«, sagte er. »Ich mach das schon.«
Yvonne folgte ihm in die Küche. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich glaube, ich bin eine grauenvolle Gastgeberin.«
»Erzählen Sie keinen Unsinn«, sagte Thomas und räumte die Teller in die Spülmaschine. »Es ist doch alles wunderbar.«
»Nein, ist es nicht. Mein Sohn betrachtet Sie wie einen Konkurrenten, der in seinem Revier wildert.«
»Er hat auch jedes Recht dazu.«
»Fühlen Sie sich denn wohl?«, fragte sie.
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen«, sagte Thomas. »Aber Sie bewundere ich. Weil Sie etwas tun, was Ihrer Natur überhaupt nicht entspricht. Sie sind keine Frau, die sich gerne mit Menschen umgibt. Und dennoch haben Sie sich dazu durchgerungen, uns alle einzuladen.«
»Ist es so offensichtlich, wie unwohl ich mich fühle?«
»Na ja«, sagte Thomas und kratzte sich am Kinn. »Sagen wir einmal so: Ihr Lächeln passt nicht zur Körpersprache.«
Yvonne seufzte und lehnte sich an den Kühlschrank.
»Noch einmal, es ist kein Problem. Alle, die hier sitzen, wissen, mit was für Dämonen Sie zu kämpfen haben. Jeder bewundert Sie, allen voran Ihr Sohn. Und die beiden anderen haben einfach nur Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun.«
»Aber das ist doch Quatsch«, sagte Yvonne.
»Natürlich ist es das.«
Yvonne seufzte noch einmal. »Kommen Sie«, sagte sie schließlich. »Es wird Zeit für den zweiten Gang.«
Yvonne hatte ein Hühnchencurry aus dem neuen Buch gekocht und sich sklavisch an die Zutaten und die vorgeschriebenen Mengen gehalten, da sie Angst hatte, dass am Ende etwas Ungenießbares dabei herauskam. Aber das Curry war gut, es schmeckte auch den anderen. Die Stimmung entspannte sich.
»Ich werde sterben«, sagte sie unvermittelt zwischen zwei Löffeln. »Ich habe einen schnell wachsenden Hirnabszess, der so gut wie inoperabel ist.«
Axel und Bianca erstarrten. Thomas wischte sich mit einer Serviette den Mund ab und legte das Besteck beiseite. Florian wurde bleich. Er ballte die Faust. Yvonne berührte seinen Arm mit ihrer Hand.
»Letzte Woche, als ich den Anfall hier im Treppenhaus hatte, hat man mich in der Uniklinik eingehend untersucht und das festgestellt.« Sie hielt inne, schloss die Augen und versuchte alles zu tun, um nicht zu weinen. Es gelang ihr, obwohl ihre Stimme alles andere als fest klang. »Wenn ich also
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