Lebenslauf zweiter Absatz
Vater war nach kurzer Zeit zurück und hatte im Stall zu tun. Einmal war mir, als hörte ich schmerzlichprotestierendes Aufmeckern einer Ziege, aber wie konnte denn das sein?
Wenn ich an Cornelius Bein dachte, wurde mir ganz wehe. Den würde der Raub viel stärker treffen als mich, denn schließlich war das Tier für ihn die Kontaktperson zu Pan, dem Allwebenden, gewesen, und wie herzlich doch hatte er sich immer freuen können, wenn er uns anhand der Flecken auf den Ziegenrippen die Lage der Molukken sowie Flora und Fauna der Großen und Kleinen Sundainseln erläutern konnte. Gerade gestern noch hatte er meinem Vater gesagt, die Ziege müsse sich gestoßen haben, denn als er mit der Hand in die Südwestecke von Sumatra geraten sei, habe sie schmerzlich aufgemeckert.
Cornelius Bein winkte verächtlich ab, als ich ihn fragte,ob ihm der Zahnarzt weh getan habe, und ging nach hinten zum Stall. Ich überlegte noch, ob ich ihn nicht doch schonend vorbereiten sollte, da trat er bereits in die Tür. Und dort blieb er stehen, bewegungslos zunächst und dann ein wenig zitternd.
Jetzt sieht er es, dachte ich, und wie ich so seine im Erschrecken hochgezogenen Schultern sah, reute mich meine Folgsamkeit gegenüber meines Vaters Gebot.
Ich hörte meinen Vater sagen: »Wieviel Zähne haben sie dir denn gezogen? Hast ja eine Farbe wie Ziegenmilch!« Und Cornelius hörte ich irgend etwas murmeln.
Dann ging er mit hölzernen Schritten in den Stall.
Ich sah, was auch er gesehen hatte: unsere Ziege. Sie fraß gelassen Rübenschnitzel und kehrte uns die rechte Seite zu, die mit dem Malaiischen Archipel.
Just als ich meinen Vater um eine Erklärung dieses frappierenden Sachverhaltes angehen wollte, bremste er mich mit einem seiner berühmten Blicke, die mehr als alles andere an ihm Hinweis auf Größe waren.
Cornelius Bein brauchte sehr lange, bis er auf seinem Schemel richtig saß, und er griff ein paarmal an dem Melkeimer, den mein Vater ihm hinhielt, vorbei. Er stöhnte tief, ehe er den ersten Euterzug tat, und der Milchstrahl fuhr ins Stroh.
»Ist was?« fragte mein Vater, aber Cornelius knirschte nur mit den Zähnen und molk. Dann hielt er jäh inne, beugte sich zum Euter der Ziege hinunter, richtete sich wieder auf und betrachtete das Tier mit den Blicken eines, der sieht, was er bis dahin zu sehen für unmöglich gehalten hat.
Mein Vater sagte: »Sieh doch mal nach, was die Prellung macht.«
Cornelius Bein nickte eifrig, als habe man ihm geraten, sich rasch in den Arm zu zwicken. Er zielte mit ausgestrecktem Zeigefinger genau auf die Südwestecke von Sumatra und stieß vorsichtig zu. Die Ziege schrie ach und weh. Und Cornelius Bein war geständig. Detailliert schilderte er Planung und Ausführung der Tat, Motiv und Fluchtweg und vor allem den Verbringungsort der Beute.
»Alles war so schön ausbaldowert«, sagte er, »aber gegen Wunder kann ich auch nicht an!«
Mein Vater streckte die Arme aus – und ich muß heute sagen, hier übertrieb er etwas – und befahl Cornelius Bein: »Nun wandle hin, wo du das unrecht Gut angekettet hast, und treibe es wieder hieher in seinen heimischen Pferch!«
Cornelius Bein setzte angesichts der Ziege vor ihm zu einer fragenden Geste an, erinnerte sich aber rechtzeitig, daß man nicht fragt, wo Wunder geschehen, und wankte, halb gebrochen und halb erhöht, davon.
Bevor er mit unserer richtigen Ziege wiederkehrte, hatte mein Vater die falsche, die geliehene, mit Hilfe warmen Wassers vom Malaiischen Archipel befreit und sie zu unseren hilfsbereiten, wenn auch verständnislosen Nachbarn zurückgeschafft. Und ich kann bezeugen: Er hat sich alle Mühe gegeben, dem Tier zu erklären, warum er ihm im Interesse der Aufrechterhaltung von Sitte und Tugend einen talergroßen Flecken auf der rechten Flanke wundzuscheuern nicht umhingekonnt hatte.
Obzwar ich annehmen darf, daß niemand den aufklärerischen Zug, der dieser Episode innewohnt, übersehen haben wird – findige Kritiker werden ihn mit der Überschrift »So werden Wunder gemacht!« gebührend herausheben–, will ich allem Obskurantismus einen weiteren Schlag versetzen, indem ich noch mitteile, daß die Geschehnisse in unserem Ziegenstall der Heilsarmee den Stoff für ihre heute noch werbewirksame »Ballade vom Mirakel des Cornelius oder Wie ein Dieb bekehret ward« geliefert haben – einen listig-verdunkelnden Singsang, in dem der führenden Rolle meines Vaters und seines Künstlertums nicht einmal Erwähnung getan ist.
Beglückt
Weitere Kostenlose Bücher