Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenslauf zweiter Absatz

Lebenslauf zweiter Absatz

Titel: Lebenslauf zweiter Absatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
Vom Netzwerk:
Aussicht wahrscheinlich. Ich machte mich gleich an Vorstellungen von uns, wie wir da obdachlos auf der Heide standen, und ältere Illustrierte wie auch Auerbachs Kinderkalender halfen mir dabei. Einmal, in einer Strähne von Reichtum, hatten wir ein Schaf besessen, und nun tat ich das Schaf hinein in meine Gesichte. Betten, Töpfe, zwei Stühle, das Schaf und wir, so standen wir auf der moorigen Straße und froren im ruppigen holsteinischen Wind, und die Nachbarn duckten sich in ihre Hütten und hatten unskeine Schottsche Karre für den Umzug leihen wollen. Und Umzug war not, hatte aber kein Ziel, denn da war nicht einmal Aussicht auf die dröhnende Kellerecke von Altona.
    Ich mußte meine Vorstellungen abbrechen, denn bei dem Tempo, das mein Vater in fliegenden Knickerbockern vorgab, waren wir bald vor unserem bedrohten Häuschen. Dabei hatte ich so schön begonnen: Wir hatten ein Loch in den torfigen Boden gescharrt und erfroren nur nicht, weil mein Vater den Küchenschrank, den wir ohnedies nicht mehr brauchten, bei kleiner Flamme verbrannte. Das Schaf lag in einer Grubenecke, und mein Bruder kauerte an seinem wolligen Bauch und schrie einmal nicht. Oder: Wir hatten das Schaf mit den Resten vom Hausrat bepackt, den Bruder zwischen hölzernem Schemel und Zinkwanne festgezurrt, und das Schaf wuchs in Eselshöhe, und wir wuchsen in die Höhe der Legende und folgten einem Schein. Mein Vater hieß Joseph, meine Mutter hieß Maria, und ich gab die Sache auf, als ich gewahrte, daß die Familie, mit der ich einer unbekannten Herberge zustrebte, bereits zwei Kinder hatte.
    Aber was mein Vater und ich in unserem Hause fanden, als wir atemlos und mit nichts weiter als unseren Fäusten in den Taschen von der Bettelfahrt kamen, war nicht von Art der Bilder, die man löscht, indem man sie nicht mehr denkt.
    Meine Mutter und Frau Persokeit saßen einander gegenüber, und beide sahen wie tot aus.
    Ich hatte noch nicht viele Tote gesehen, und es waren blasse Zeichnungen ohne Röte, die ich davon bewahrte. Ein Angeschwemmter im öligen Elbsand; ein Fuß, denich sah, als ich im Krankenhaus die falsche Tür geöffnet hatte, und ein Mann beim Frisör, der auch auf die vierte Frage, ob schräg oder gerade, stumm geblieben war – mehr Anblick von Unbelebtem hatte ich nicht gehabt, und so war es erklärlich, daß ich die Blässe meiner Mutter nicht gleich vom Weiß der Frau Persokeit zu unterscheiden wußte.
    Aber meine Mutter sprach: Frau Persokeit ist tot. Und mein Vater sagte: Kaum daß man den Rücken dreht.
    Frau Persokeit war in ihrem Rollstuhl etwas zusammengerutscht, und der Irrtum, hier schlafe eine, hätte sich angeboten, wäre nicht der Arm gewesen, der so schwer über die Lehne hing.
    Vielleicht kann man sie wiederbeleben? sagte mein Vater, und meine Mutter antwortete: Das kann man nicht.
    Mein Vater glaubte ihr bestimmt, niemand glaubte meiner Mutter nicht, wenn sie in diesem Tone sprach, aber er nahm dennoch den Spiegel vom Haken überm Handstein und hielt ihn der Geldverleiherin unters Kinn.
    Kein Hauch von Leben wollte sich auf dem Spiegel fangen. Mein Vater zeigte ihn zuerst meiner Mutter und dann mir und hängte ihn wieder an seinen Platz über dem Spülbecken. Wie ist die Reihenfolge beim Bescheidsagen? fragte er.
    Die kommen von alleine, sagte meine Mutter und wies mit den Augen auf die Straße, wo Frau Pragl an der Hecke stand und zu unserem Haus herüberspähte.
    Noch nie war mir Frau Pragl wie ein Vogel vorgekommen und wie einer, der sich bei Totem einfindet, schon gar nicht. Aber nichts von dem, was mir vor Augen stand, war mir schon vorgekommen: Eine tote Frau im elektrischenRollstuhl. Eine Frau Persokeit, die nichts mehr zu sagen hatte. Eine Mutter, die der Frau Persokeit in der Farbe ähnlich war. Ein Vater, der keine Wege wußte. Und ich unter Umständen, wie sie höchstens in Knopf ’s Lichtspielen geboten wurden.
    Ich war besonders befremdlich in diesen befremdlichen Verhältnissen, und anstatt daß meine Mutter die Frage meines Vaters beantwortet hätte, wie denn das mit Frau Persokeit gekommen war, sagte sie und meinte mich: Der gehört hier nicht her!
    Aber mein Vater hatte eine Meinung von mir, die mir gefiel: Ist er bis jetzt nicht, fällt er nun auch nicht mehr! Und dann sagte er, und in einem Hauch war es doch eine Frage: Du hast ja wohl nicht an ihr herumgestochert.
    Meine Mutter verlor den Anflug von Färbung, zu dem sie gerade gekommen war, und in einem Ton, der auch kein Leben hatte, sagte sie:

Weitere Kostenlose Bücher