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Lebenslauf zweiter Absatz

Lebenslauf zweiter Absatz

Titel: Lebenslauf zweiter Absatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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sprach von einem historischen Gipfeltreffen, und wissen wollte sie nur, warum sich der führende Scharrbowski und der führende Farßmann nicht zum Abschied geküßt hatten. Es habe ihr, sagte sie, und die beiden anderen fanden es wer weiß wie komisch, der Bruderschmatz zwischen uns doch sehr gefehlt.
    Ich bot ihr an, wir beide könnten die versäumte Koserei gleich nachholen, aber da Lia Weigel bereit schien, für die Brigadeleiterin einzuspringen, lenkte ich das Gespräch auf das Gebiet nüchterner Geschichtsschreibung.
    Wir, sagte ich und schloß mit einer Handbewegung zum Zirkel zusammen, was auf beiden Seiten der Schwelle versammelt war, wir sollen die Chronik vom VEB Ordunez schreiben. Ja, meine Damen, nun ist es heraus, das süße Geheimnis zwischen Scharrbowski und mir, und ich darf Sie bitten, sich ein wenig in historischem Grübeln zu versuchen. Ich nehme an, am Ende gibt es die Tacitus-Medaille, und das ist immer noch besser,als von Werkdirektor Scharrbowski geküßt zu werden.
    Das fanden die Frauen nicht anders, und sie fanden wie ich, daß wir so schon an gesellschaftlichen Aufträgen keinen Mangel hatten, und sie wußten wie ich, wie schwierig es war, bei solchen republikanischen Übungen nicht mitzutun.
    Natürlich wird man, sagte ich, die eine oder andere Frage gar nicht anders als innerhalb der Arbeitszeit behandeln können. Wenn man nicht vor Ort ist, kriegt man das meiste über diesen Ort ja nicht heraus. Weiß zum Beispiel jemand, wann Ordunez volkseigen geworden ist, oder weiß er, wie man es nach Feierabend ermitteln könnte?
    Nach Feierabend haben wir anderes zu ermitteln, sagte Ellen Jäger, und nur dank der Neigung Lia Weigels zur Besserwisserei gingen wir nicht auf dieses Thema mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten ein. Fräulein Weigel sagte: Daß dieser Laden, bevor er VEB wurde, Abzeichen-Herrmann geheißen hat, sollte selbst in der Hauptbuchhaltung bekannt sein.
    Ist uns geläufig, erwiderte ich, und die Tatsache, daß beim Wechsel der Eigentumsform die Produktbezeichnung gleich mit geändert worden ist, hat sich ebenfalls zu uns herumgesprochen. Aus Herrmanns Abzeichen sind volkseigene Orden und Ehrenzeichen geworden, und am Ende wurde aus VEB Orden und Ehrenzeichen der berühmte Trägerbetrieb VEB Ordunez. Das alles, meine Damen, ist uns nicht entgangen, nur kommt der Chronist, als der ich jetzt spreche, nicht ohne Daten aus. Wann, lautet die Frage, wann haben wir uns aus dem Joch von Abzeichen-Herrmann befreit?
    Es war, stellte sich heraus, vor unser aller Dienstzeit im Hause gewesen, und Lia Weigel legte Wert auf die Erklärung, es müsse auch erheblich weit vor ihrer Lebenszeit gewesen sein.
    So erheblich nun wieder nicht, sagte Helga Woltermann, und ich fand, wir hatten einen prächtigen Brigadier in ihr.
    Wie es scheint, liefert Gott zwar den Verstand zum Amt nicht immer mit, aber im Gange der Beförderung steckt er einem etwas Antreiberisches ins Bewußtsein. Obwohl es mich im selben Augenblick stark genierte, griff ich mit ausgestelltem Interesse zu einem Schriftstück auf meinem Tisch, und was weltweit als ein Zeichen gilt, mit dem der Austausch zwischen Chef und Mitarbeitern an sein Ende kommt, wirkte auch bei dieser Begegnung zwischen Hauptbuchhaltung und Buchhaltung vom VEB Orden und Ehrenzeichen, eingekürzt Ordunez. Die Kolleginnen wandten sich ihren Büchern zu, und ich wollte mich an mein Hauptbuch begeben. Aber zu Eintrag kam es nicht, denn Helga Woltermann erschien noch einmal an der Schwelle zwischen unseren Räumen und schloß die Tür. Ich starrte gegen das Holz der Klassenschranke und schickte mich an zu dem Ruf: Ich will zu meinem Volke gehn!, aber ich unterließ ihn dann. Ich unterließ es auch, einem Bericht, der seit Tagen auf letzten Zuschliff wartete, diesen Schliff jetzt zu geben.
    Weil mir die Gegenwart des VEB Ordunez im Augenblick besonders mißfiel, beschloß ich, mich aus ihr abzulösen und ohne Verzögerung den Abstieg in seine Vergangenheit, soweit sie buchhalterisch festgehalten war, zu beginnen.
    Dem Zustand der Papiere nach, die ich auf hochgelegenenRegalen und in den Tiefen der Schränke fand, schien es sich um eine Erstbegehung zu handeln. Zwanzig, dreißig und beinahe vierzig Jahre zurück hatten verschiedene Jemande diese Kladden geschlossen, und seither hatte sie niemand wieder geöffnet. Da mußte ich erst kommen. Chronist Farßmann.
    Kein Niemand also, sondern ein Jemand. Ein Erstjemand sozusagen.
    Erstjemand gefiel mir, obwohl es fraglos

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