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Lebenslauf zweiter Absatz

Lebenslauf zweiter Absatz

Titel: Lebenslauf zweiter Absatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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eines jener hergeholten Wörter war, zu denen ich manchmal neige und für die sich meine Kolleginnen nie erwärmen konnten. Doch hatte das jetzt außer Betracht zu bleiben, und nur an Zahlenreihen hielt ich mich, an Überschriften und Unterschriften und den Wechsel der Unterschriften im Laufe der Jahre. Ich hielt mich an Maße und Gewichte, an Materialien, Produkte und ihre verbuchten Mengen. An Umlaufmittel hielt ich mich, an Überträge und Überschüsse, an Reserven, Prämien und den abgeführten Gewinn.
    Beiläufig fast erfuhr ich auf meinem Weg zurück in der Fährte des Betriebes die Daten seiner Umeignung wie auch seiner Umbenennungen. Ich notierte sie, aber heiße Entdeckerfreuden stellten sich nicht ein. Mehr als einige Griffelzüge des Geschichtsermittlers waren diese Sachen nicht wert, denn schließlich hatte man Abzeichen-Herrmann nicht mit dem Bajonett aus seinem Comptoir vertrieben, und auch bei den Umtaufen war man mit Verwaltungsakten ausgekommen. Jahrelang noch, so zeigten es meine Ausgrabungen, hatten sich die Büros mit den alten Kopfbögen begnügt. Das Nichtmehrzutreffende war mit Balken aus großen X überdeckt, und das Nunmehrzutreffende stand in Maschinenschrift darunter.
    Aus hundert Kreuzworträtseln wußte ich, daß Klio die Muse der Geschichtsschreibung ist, aber schon nicht mehr wußte ich, ob man der verwöhnten Dame mit solchen Meldungen kommen durfte. Oder gar mit Berichten aus der Medaillenproduktion. Mit Schilderungen von den Kämpfen, durch die wir mußten, als es galt, das Abzeichen für Treue im Berufsverkehr in die Großserie zu bringen, oder als wir angewiesen worden waren, die Mahnplakette Einig Vaterland vom Band zu nehmen.
    Wo sollte im Verzeichnis von Weltgeschichte ein Platz wohl sein für die Erzeugnisbilanz vom VEB Ordunez, zumal sich der größere Teil unserer bilanzierten Erzeugnisse für den Weltmarkt nicht eignet. Es liegt in ihrer Natur, daß es ein Bedürfnis nach ihnen ausschließlich in der engeren Heimat gibt. Was wiederum zur Folge hat, daß von Berühmtheit, mit der wir uns im Selbstspott manchmal versehen, in Wahrheit nicht die Rede sein kann und auch nicht ist.
    Noch bei keiner Demonstration etwa ist es geschehen, daß der Tribünensprecher über die Schallanlagen Gruß und Dank in unsere Richtung rief; nie waren wir gemeint, wenn, bei zurückgedrehtem Schalmeienklang, von Erfüllung und Übererfüllung ein öffentliches Dröhnen ging. Alle begrüßte der Mann hinterm Mikrophon, alle, ausgenommen die Werktätigen vom VEB Ordunez. Wir mußten unter klirrenden Liedern als namenloses Volk im Zuge gehn.
    Es erklärte sich das. Für den Lautspruch waren wir ungeeignet, da wir nicht gemeint sein konnten mit der Aufforderung, auch valutaseitig weiter und noch höher voranzuschreiten. Es erklärte sich, und dennoch empfanden wir es als doppelt ungerecht, weil Reih um Reih mit unskaum einer ging, der nicht versehen war mit dem einen oder anderen Artikel aus dem VEB Ordunez.
    Wohin auch immer das Auge blickte, immer erblickte es ein Stück aus unserem Sortiment. Wenn man jenen Teil gehobenen Schmuckwerks nicht zählte, der von der staatlichen Münze geliefert worden war, stammte alles, was an Spalieren und Tribünen vorbeigetragen wurde, aus unserer Fertigung.
    Von den hunderttausend Spurt-in-der-Freizeit-Nadeln, die unser Werk verlassen hatten, traf man so manche am Revers von so manchem Werktätigen wieder, und selbst die rare Ehrenspange zum Fest der Nationalen Eigenart glitzerte hier und dort. Neben den von uns entwickelten Ode-an-die-Freude-Orden blitzten Freunde-an-der-Oder-Medaillen, natürlich auch von uns, und seitdem wir eine miniaturisierte Fassung des Umweltschutzverdienstschildes auf den Markt geworfen hatten, sah man an jedem Feiertag, wie viele Schützer die Umwelt hatte.
    Auf den Markt, doch eben nur den Binnenmarkt. Weltweit herrscht in unserer Branche seit jeher die Ansicht, fürs vaterländische Dekor seien nur heimische Rohstoffe und hausgemachte Zutaten verwendbar. Auch die Franzosen weben Schärpen und Bänder zur Ehrenlegion lieber selbst, Türken stanzen Halbmond und Sterne auf eigener Stanze am Bosporus, und unsere Freunde möchten ihre Siegeszeichen nicht unbedingt bei den germanischen Freunden erwerben.
    Einzusehen ist das alles, nur schlägt es uns schwer in die Bücher. Oder schlimmer, in diesen Büchern kommt die Gegend jenseits von Wismar und Weimar gar nicht vor. Da bleibt der Trost nur schwach, daß wir, wo wirschon keine fremden Taler

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