Lebenslügen / Roman
Polypropylen, und sie hatte keine Chance.
Sie wusste, dass das der dunkle Ort war, den erneut aufzusuchen ihr bestimmt war. Nur weil dir einmal etwas Schreckliches zugestoßen war, heißt das nicht, dass es nicht noch einmal passieren würde.
Die Männer sprachen nur mit ihr, wenn es unumgänglich war, aber es schien ihnen nichts auszumachen, dass sie ihre Gesichter sah. Sie hatten etwas Militärisches an sich, und sie fragte sich, ob sie einer Sondereinheit angehörten. Fremdenlegionäre. Sie hielt es für das Beste, mit ihnen zu sprechen, auch wenn sie nicht antworteten. Einer war etwas kleiner als der andere, und sie nannte ihn »Peter«. (Tut mir leid, ich weiß Ihren Namen nicht, haben Sie was dagegen, wenn ich Sie Peter nenne?) Den etwas Größeren nannte sie »John«. (Wie wäre es mit John – ist das ein guter Name?) Sie sagte: »Danke, John«, wenn sie ihr Wasser brachten, oder: »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Peter«, wenn sie den Nachttopf hinaustrugen, um ihn zu leeren.
Sie nahm an, dass sie sie umbringen würden, wenn sie ihren Zweck erfüllt hätte, worin immer der bestand, aber sie würde es ihnen schwermachen, weil sie sich daran erinnern müssten, dass sie nett zu ihnen gewesen war, dass sie sie mit Namen angesprochen hatte, auch wenn es nicht ihre richtigen Namen waren, sie hatte ihnen zu verstehen gegeben, dass sie ein Mensch war. Und dass auch sie Menschen waren.
Außer Wasser brachten sie ihr etwas zu essen, in der Mikrowelle aufgewärmte Fertiggerichte, die sie normalerweise nicht angerührt hätte, auf die sie sich jedoch freute, weil sie sehr hungrig war. Sie brachten ihr Gläser mit Babynahrung und Tassen mit Milch, die sie nicht dem Baby gab, sondern selbst trank, stattdessen stillte sie das Baby. Sie brachten ihr eine Packung Wegwerfwindeln in der falschen Größe und eine Abfalltüte für die schmutzigen, aber die Abfalltüte leerten sie nie.
Das Baby war sehr ruhig, und sie fragte sich, ob sie ihm ein Beruhigungsmittel gegeben hatten. Ihr hatten sie eine Injektion gegeben, und ihr Kopf fühlte sich am ersten Tag wie Wolle an, eine Art flüssiges Benzodiazepin oder vielleicht intravenöses Valium. Sie hatte sich selbst die Vene präpariert, nachdem sie dem Baby ein Messer an den Hals gehalten hatten.
Sie brachten auch Spielsachen – einen Ball und einen Plastikwürfel mit unterschiedlich geformten Löchern in den Seiten. Ein Licht schaltete sich ein und ein Glöckchen klingelte, wenn man die richtigen Teile in die Löcher steckte. Beides war gebraucht, und kleine, handgeschriebene Preisschilder klebten noch daran, als stammten sie aus einem Wohlfahrtsladen. Bald langweilten sie sich mit den Spielsachen. Meistens spielte sie Backe, backe Kuchen und Kuckuck, und sie sang und sagte Kinderreime auf und hob das Baby hoch, damit es bei Laune blieb und nicht fror, denn das Haus war nicht geheizt. Unterkühlung war ein größeres Problem als Langeweile. Sie hatten ihr ein paar alte Decken gegeben, aber sie reichten nicht. Sie wünschte, sie hätte ihr Asthmaspray (sie musste sich anstrengen, um ruhig zu bleiben), sie wünschte, dass sie die Decke des Babys hätte und beide wärmere Kleidung tragen würden.
Sie betraten das Haus, als sie sich umzog. Sie hörte, wie Sadie unten wie wahnsinnig bellte, und ein knallendes Geräusch, das sie nicht verstand, bis ihr klar wurde, dass der Hund eine Tür einzutreten versuchte, um zu ihr zu gelangen. Sie hob das Baby hoch und lief auf den Treppenabsatz, und da sah sie sie.
Das Seil war zu kurz, um bis zum Fenster zu gehen, aber wenn sie sich aufs Bett stellte, sah sie hinaus. Felder, nichts als braune Felder, winterkahl, beschienen von einem hellen, kalten Mond. Kein anderes Haus in Sicht.
Am zweiten Tag gab Peter ihr einen Block und einen Stift und wies sie an, »ihrem Mann« zu schreiben. Was sollte sie schreiben? Dass sie beide sterben würden, wenn er nicht tat, was sie ihm sagten. Sie fragte sich, was Neil getan hatte, um das über sie zu bringen, und was er tat, um es zu beenden.
Sie wurde Ärztin, weil sie Menschen helfen wollte. Es war ein schreckliches Klischee, aber es stimmte (es stimmte nicht bei allen Ärzten). Sie wollte allen Menschen helfen, die krank waren und Schmerzen hatten, von Masern bis zu Krebs, von Trübsinn bis zu Depression. Wenn sie sich selbst nicht heilen konnte, dann konnte sie zumindest andere heilen. Deswegen hatte sie sich zu Neil hingezogen gefühlt – er musste nicht geheilt werden, er war
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