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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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würdevoll für einen Hund, der um Essensreste kämpfte. (»Sie wird allmählich alt«, sagte Dr. Hunter traurig.)
    Reggie gab dem Baby ein Stück Vollkorntoast zum Daraufrumkauen, während sie seine Schüsseln spülte, mit der Hand natürlich, weil sie der Spülmaschine nicht traute. Das Geschirr des Babys war aus echtem Porzellan und altmodisch gemustert. Sein Spielzeug war geschmackvoll und aus Holz – nicht knallbunt und laut –, und seine Kleidung war teuer und neu, nicht abgelegt oder gebraucht gekauft. Viel davon war französisch. Heute trug es den allersüßesten blauweißgestreiften Strampelanzug (»sein Matrosenoutfit«, nannte es Dr. Hunter), der Reggie an einen viktorianischen Badeanzug erinnerte. In seinem Zimmer lag ein Teppich mit der Arche Noah darauf, und es hatte eine Lampe in Form eines rotweißgepunkteten Fliegenpilzes. Seine Laken waren mit Segelbooten bestickt, und über dem Kopfende des Betts hing ein gerahmtes und in blassblauem Kreuzstich mit seinem Geburtstag und seinem Namen, »Gabriel Joseph Hunter«, besticktes Tuch.
    Das Baby hatte vor nichts Angst außer vor plötzlichen lauten Geräuschen (Reggie war auch nicht gerade erpicht darauf), und es klatschte in die Hände, wenn man sagte, »Klatsch in die Hände«, und wenn man sagte, »Wo ist der rote Ball?«, krabbelte es zu seiner Spielzeugkiste und holte ihn heraus. Gerade gestern hatte es allein seinen ersten wackligen Schritt getan (»Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein Riesenschritt für ein Baby«, sagte Dr. Hunter). Es konnte die Wörter »Wauwau«, »Ball« und »Beckie« sagen, letzteres war das Wort für seinen wertvollsten Besitz – ein kleines Viereck, ausgeschnitten aus einer Decke, die Mr. Hunters Schwester vor seiner Geburt gekauft hatte, eine blassgrüne (»Moos«, sagte Dr. Hunter) Decke für jedes Geschlecht. Dr. Hunter erzählte Reggie, dass sie das Geschlecht des Babys »eigentlich« gewusst, es jedoch niemandem mitgeteilt habe, nicht einmal Mr. Hunter, weil sie »das Baby so lange wie möglich ganz allein für sich haben wollte«. Die grüne Decke, die das Baby obsessiv liebte, war jetzt zerschnitten, damit sie besser handhabbar war. »Sein Winnicottsches Übergangsobjekt«, sagte Dr. Hunter geheimnisvoll. »Oder vielleicht sein Talisman.«
    Eine Woche zuvor war es ein Jahr alt geworden, und um das zu feiern, waren sie nachmittags zu dritt (ohne Mr. Hunter, er war »zu beschäftigt«, und außerdem »weiß er doch nicht, dass er Geburtstag hat, Jo«) zu einem Hotel in der Nähe von Peebles gefahren, um Tee zu trinken, und die Kellnerin hatte ein großes Theater um das Baby gemacht, weil es so hinreißend war und sich so gut benahm. Es bekam ein kleines rosa Eis. »Sein allererstes! Stell dir vor!«, sagte Dr. Hunter. »Stell dir vor, du isst zum allerersten Mal Eis, Reggie.« Dem Baby fielen fast die Augen aus dem Kopf, als es das rosa Eis probierte.
    »Ach du meine Güte«, sagte Reggie.
    Reggie und Dr. Hunter aßen einen großen Teller mit Kuchen. »Ich glaube, in mir steckt eine dicke Person, die versucht, auszubrechen«, sagte Reggie, und Dr. Hunter lachte und erstickte dann fast an einem kleinen Kaffee-Eclair, was wahrscheinlich okay gewesen wäre, weil Reggie Dr. Hunter gebeten hatte, ihr das Heimlich-Manöver für genau diesen Fall beizubringen.
    »Ich bin sehr glücklich«, sagte Dr. Hunter, als sie sich erholt hatte, und Reggie sagte: »Ich auch.« Und das Schöne war, dass es stimmte, denn es war erstaunlich, wie oft die Leute sagten, sie wären glücklich, wenn sie es nicht waren. Wie Mum mit dem Mann-der-vor-Gary-kam.
    Das war am ersten Tag des Advents, und Dr. Hunter meinte, dass es nett wäre, an so einem Tag Geburtstag zu haben, obwohl sie nicht religiös war. Sie kauften den Adventskalender in Peebles. In Peebles gab es alle möglichen Geschäfte, die alte Menschen mochten. Auch Reggie mochte sie, vermutlich bestand da ein Zusammenhang mit ihrer alten Seele.
    Hinter jedem Fenster des Adventskalenders steckte ein Stück Schokolade, und Dr. Hunter sagte: »Wir hängen ihn in der Küche auf, und du kannst jeden Tag ein Fenster öffnen und die Schokolade essen.« Was Reggie tat, was sie jetzt tat, die schmelzende, nikolausförmige Schokolade in der Wange, damit sie länger vorhielt, während sie das Bunnikin-Geschirr des Babys in die Spüle stellte und Spülmittel von Ecover in das heiße Wasser spritzte. Dr. Hunter benutzte keine Produkte, die nicht ökologisch

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